„Freie Affen“ Teil 5

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Fünfte Szene: Carl-Schurz-Straße

Monica, Wittenberg und die beiden Hunde haben es sich diesmal in der Carl-Schurz-Straße vor der Spandauer Karstadt-Filiale gemütlich gemacht. Ein großes Schaufenster hinter ihnen ist mit eleganter Sportbekleidung dekoriert. Links außen (vom Zuschauer aus gesehen) hat die SPD einen schlichten Informationsstand mit Sonnenschirm aufgebaut. Zwei ältere Sozialdemokraten bemühen sich mit mäßigem Erfolg um die Aufmerksamkeit der Passanten.

Wittenberg:

Ich kenne die beiden aus meiner Zeit in der Abteilung Wilhelmstadt. Sie gehören zur ehernen Entourage des Fraktionsvorsitzenden Christoph Haase.

Monica:

Leben und leben lassen, Wittenberg, du musst dich nicht mit ihnen anlegen.

Wittenberg:

Wie kommst du bloß auf die Idee, dass ich dergleichen im Sinne haben könnte, mein süßes Hexlein?

Monica:

Weil du im Grunde genommen wahnsinnig bist, Wittenberg, du machst dir das Leben viel zu schwer und solltest entschieden mehr für deine mentale Gesundheit tun.

Wittenberg:

Schau dir bloß den Flyer an, den zu verteilen sie sich erfrechen: „Gute Arbeit!“

Wittenberg reicht Monica einen professionell gestalteten SPD-Zettel herüber; sie nimmt das Papier mit spitzen Fingern und betrachtet es stirnrunzelnd.

Monica:

Was hast du gegen „gute Arbeit“ einzuwenden?

Wittenberg:

Es gibt keine „gute Arbeit“ im Kapitalismus. Womit wir uns politisch auseinanderzusetzen haben, das ist exploitative Lohnarbeit unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise, unter kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen.

Monica:

Das klingt mir wieder stark nach Weimarer Republik, mein Lieber, solche Parolen nimmt dir heutzutage kein Mensch mehr ab.

Wittenberg:

Natürlich nicht, dafür hat die Parteispitze mit jahrzehntelanger Theoriefeindlichkeit gründlich gesorgt.

Monica:

Aber wenn dir die SPD dermaßen zuwider ist, warum trittst du dann nicht einfach aus?

Wittenberg:

Kommt nicht in die Tüte!

Monica:

Aber das wäre das einzig Richtige, das Vernünftige, das so schwer zu realisieren ist, das deiner Lage Angemessene.

Wittenberg (misstrauisch):

Was soll das heißen: Meiner Lage angemessen? Ich denke gar nicht daran, mich in einer „Lage“ zu befinden!

Monica:

Blödmann, jeder Mensch ist in irgendeiner Lage.

Wittenberg:

Meine Lage ist ganz ausgezeichnet, wenn du es genau wissen willst.

Monica:

Das habe ich von dir schon anders gehört.

Wittenberg:

Ich nehme mir die Freiheit, täglich neu nachzudenken.

Monica:

Mit den sattsam bekannten, die unverständige Welt zur umwälzenden Veränderung mobilisierenden Resultaten, hm?

Wittenberg:

Tatsache ist aber, dass in den Medien des bürgerlichen Mainstreams, die bestimmten reichen und superreichen Familien gehören, sozialistische, kommunistische und anarchistische Denkweisen total marginalisiert werden, falls sie überhaupt einmal vorkommen.

Monica:

Im Feuilleton möglicherweise.

Wittenberg:

In der S-Bahn habe ich eine BZ gefunden, die schon ein paar Tage alt ist, mit Thilo Sarrazin auf der Titelseite.

Wittenberg kramt die Zeitung aus seinem braunen Lederrucksack; sie ist reichlich zerknittert.

Monica:

Auch SPD?

Wittenberg:

Unser tolldrastischer Kreisvorsitzender aus Spandau hat ihn tatsächlich aus der Partei ausschließen lassen wollen.

Monica:

Warum denn?

Wittenberg:

Der Spitzengenosse Sarrazin hatte 2010 ein Buch geschrieben, das einiges Aufsehen erregte.

Monica:

Und das soll ein ausreichender Grund für einen Parteiausschluss sein?

Wittenberg:

In der SPD wird selbständiges Denken nicht unbedingt anerkannt, ganz im Gegenteil, es gefährdet die steile Parteikarriere.

Monica:

Zyniker!

Wittenberg:

Genosse Sarrazin meint jetzt, wenn man damals auf ihn gehört hätte, dann gäbe es die AfD heute nicht.

Monica:

Vielleicht neigt er dazu, die Einflussmöglichkeiten von Literatur maßlos zu überschätzen?

Wittenberg:

Im Prinzip stellt Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ ein monumentales, antizipierendes Gründungsmanifest der Alternative für Deutschland in ihrer zweiten historischen Gestalt, also nach dem ruhmlosen Abgang der Fraktion um den Wirtschaftsprofessor Lucke dar. Sein Buch war ein gigantischer Bestseller, ein Sensationserfolg. Dabei handelt es sich um ein nicht leicht zu lesendes, sogar ziemlich schwieriges Sachbuch zu Fragen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland in den kommenden Generationen. Sarrazin ging von der optimistischen Annahme von nur 100.000 Zuwanderern pro Jahr aus und rechnete dann vor, wie sich die Gleichgewichte in der Bevölkerungsstatistik geradezu naturnotwendig zu Lasten der Einheimischen und zu Gunsten der Migranten verschieben müssten, wenn die Deutschen sich nicht endlich zum Gegensteuern entschließen könnten.

Monica:

Dazu ist es zu spät.

Wittenberg:

Meinst du?

Monica:

Der point of no return ist längst überschritten.

Wittenberg:

Aber wir hätten durchaus die Möglichkeit gehabt, die Einwanderung nach kanadischem Vorbild so zu regulieren, dass schwerwiegende soziale Konflikte zwischen den halbwegs gebildeten christlichen Ureinwohnern und den meist analphabetischen oder halbalphabetischen, in religiösem Irrationalismus befangenen mohammedanischen Migranten gar nicht erst entstanden wären.

Monica:

Das glaubst aber auch nur du, Wittenberg, in deiner Eigenschaft als Sozialkybernetiker, der überall dort, wo es brennt, steuernd und regulierend eingreifen kommt.

Wittenberg:

Auf diesem Niveau unterhalte ich mich nicht mit dir.

Monica:

Pustekuchen.

Wittenberg steht auf und geht zu den beiden Sozialdemokraten an den Info-Stand hinüber. Anastasia und Zoltan trotten erst hinterdrein, laufen dann aber doch zu Monica zurück.

Wittenberg:

Guten Tag zusammen!

Sozialdemokrat B.:

Guten Tag.

Sozialdemokrat M.:

Hallo.

Sozialdemokrat B.:

Ich wollte schon zu euch kommen, Wittenberg, mit der Bitte, vielleicht woanders zu kampieren. Es macht keinen guten Eindruck. Monica und du, ihr werdet langsam zum Stadtgespräch. Was denkt ihr euch dabei? Fungiert ihr als eine Art leibhaftiger Kunstinstallation?

Wittenberg:

Wir belästigen niemanden.

Sozialdemokrat M.:

Aber eure bloße Anwesenheit, euer bloßes Vorhandensein zu allen erdenklichen Tageszeiten an scheinbar sorgfältig ausgesuchten Plätzen in der Altstadt von Spandau ist Ärgernis und Belästigung genug.

Sozialdemokrat B.:

Was führst du wieder im Schilde, Wittenberg?

Wittenberg:

Nichts.

Sozialdemokrat M.:

Das erzählen mir meine Patienten in der Psychiatrie auch immer, wenn ich sie direkt auf etwas anspreche, das mir ungewöhnlich für den Stationsalltag zu sein scheint.

Sozialdemokrat B.:

Du kannst dich nicht einordnen, Wittenberg, immer musst du etwas Besonderes darstellen.

Sozialdemokrat M.:

Und die arme Monica ziehst du gleich mit hinunter, Wittenberg!

Wittenberg:

Ich bin allerdings zu euch gekommen, um mich über die aktuellen politischen Überlegungen der SPD nach ihrem jüngsten Wahldebakel zu informieren.

Sozialdemokrat B.:

Von einem Wahldebakel kann keine Rede sein. Wir stellen in Rheinland-Pfalz weiterhin die Ministerpräsidentin. Das ist ein Erfolg, den wir uns nicht ausgerechnet von dir miesmachen lassen werden.

Sozialdemokrat M.:

Die Ergebnisse in Baden-Württemberg und vor allem in Sachsen-Anhalt hätten freilich etwas besser ausfallen dürfen, keine Frage, aber andererseits soll man schäbige ländliche Wutwahlen auch nicht überbewerten. — Die AfD ist ein Strohfeuer. Das wirst du schon sehen.

Wittenberg:

Aber die gute, alte Tante SPD hat in Baden-Württemberg und in Sachsen-Anhalt katastrophale Einbrüche hinnehmen müssen.

Sozialdemokrat B.:

Es ist das souveräne Recht eines jeden Wahlbürgers, uns von Zeit zu Zeit auch einmal seine Stimme verweigern zu dürfen.

Sozialdemokrat M.:

Von Belang sind wirklich nur die allgemeinen Tendenzen der sozialen und geschichtlichen Entwicklung, und die besagen eindeutig, dass die Leute uns früher oder später sowieso wieder wählen werden, einfach mangels einer besseren Alternative.

Wittenberg:

Hoffentlich wissen die Leute das auch!

Sozialdemokrat B.:

Dafür stehen wir hier und an zahlreichen Orten in der ganzen Stadt. — Wir wollen Zuversicht vermitteln.

Wittenberg:

Aber mit einem Politikwechsel ist in naher Zukunft wohl eher nicht zu rechnen?

Sozialdemokrat B.:

Was für ein Politikwechsel?

Wittenberg:

Diese fatale neo-sozialdemokratische Orientierung hin zur Mitte …

Sozialdemokrat M.:

Was ist daran verkehrt? Willst du etwa den multikulturellen Randgruppen in den Allerwertesten kriechen? Oder den Hartz-IV-Empfängern die Stütze erhöhen?

Sozialdemokrat B.:

Das schlage dir schleunigst aus dem Kopf, Wittenberg, das bringt keinen Segen.

Sozialdemokrat M.:

Und überlege dir bitte noch einmal gründlich, ob du deine merkwürdigen Auftritte hier in unserer Altstadt nicht baldmöglichst beenden möchtest. Solches Herumlungern schadet dem Tourismus kolossal! — Es hat übrigens bereits Beschwerden gegeben.

Wittenberg:

Aber habt ihr gar keine anderen Sorgen?

Sozialdemokrat B.:

Es wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelingen, die AfD in Sachsen-Anhalt von einer Regierungsbeteiligung auszuschließen. — Wo, meinst du, liegt das Problem?

Sozialdemokrat M.:

Sollen die sich ruhig kräftig austoben in der misslichen und mistigen Oppositionsrolle. Das wird vom Publikum erfahrungsgemäß früher oder später als langweilig empfunden. Also wendet man sich von der AfD nach einigen Jahren wieder ab und protestiert eben auf andere Weise. — Es gibt keinen realen Grund zur Beunruhigung.

Sozialdemokrat B.:

Und verschone uns bitte mit Anwürfen von dem groben Kaliber, die vernichtend geschlagenen Altparteien würden sich nun in Sachsen-Anhalt notgedrungen zu einem obszönen „Machtkartell“ der Marke „Schwarz-Rot-Grün“ zusammenraufen, um die AfD wieder klein zu machen. Das haben wir nämlich nicht nötig. Es ist uns noch immer gelungen, demokratische Mehrheiten zu organisieren.

Wittenberg:

Ich bin hellauf begeistert! — Einen schönen Tag noch, meine Herren!

Sozialdemokrat B.:

Es war mir wie immer ein Vergnügen, mich mit dir zu unterhalten, Wittenberg.

Sozialdemokrat M.:

Möchtest du dir vielleicht einen Kugelschreiber mitnehmen, Wittenberg?

Wittenberg geht wieder zu Monica zurück. Er bleibt einen Augenblick stehen, um sich das Schaufenster von Karstadt anzuschauen, dann setzt er sich hin, schaut missmutig drein und grunzt.

Monica:

Was gibt es zu grunzen, Alter?

Wittenberg:

Die Sturheit …

Monica:

Welche Sturheit?

Wittenberg:

Diese eklatante sozialdemokratische Sturheit! ─ Meine ehrwürdige Partei ist nicht in der Lage, offen und ehrlich Fehler einzugestehen und glaubwürdige Selbstkritik zu üben. Immer sei alles irgendwie doch richtig gewesen, und das blöde Volk habe bloß noch nicht richtig verstanden, wie vernunftsgemäß und positiv sich am Ende alles auswirken werde.

Monica:

Neulich hast du gesagt, der Unterschied zwischen der SPD und der CDU sei ungefähr so groß wie der zwischen einem Haufen Kacke und einem Haufen Scheiße.

Wittenberg:

Dafür bitte ich vielmals um Verzeihung, Monica.

Monica:

Aber mit solch unentschuldbaren und übrigens auch unappetitlichen Äußerungen verabschiedest du dich aus der demokratischen Mitte. Du stellst dich ins Abseits.

Wittenberg:

Und „abseits“ ist, wenn der Schiedsrichter pfeift, ich weiß schon.

Monica:

Papperlapapp!

Wittenberg:

Kennst du den Spruch:

„Baue auf und reiße nieder,

dann hast du Arbeit immer wieder!“

Monica:

Habe ich schon gehört, Wittenberg, aber was willst du ausgerechnet jetzt damit sagen?

Wittenberg:

Nach genau demselben Prinzip funktioniert auch bürgerliche oder vielmehr kleinbürgerliche Reformpolitik: Die eine Regierung beschließt den „schlanken Staat“ und treibt die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge voran. Die nächste Regierung sagt: „Kommando zurück, mit der Privatisierung sind wir durch!“ ─ und verstaatlicht wieder. Die alte Regierung baut Polizisten ab, die neue Regierung stellt wieder welche ein. Unter der Herrschaft der einen Partei wird am Öffentlichen Dienst eingespart bis es nervenzerfetzend quietscht; unter der Herrschaft der anderen Partei werden dann wieder händeringend Leute gesucht. Schulpolitik geht einmal linksherum, dann wieder rechtsherum. Die Sozialdemokraten möchten nicht gerne Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete liefern; sie liefern aber, allenfalls vorübergehend in die höchste politische Verantwortung geraten, selbstverständlich trotzdem. Die Christlichen Demokraten möchten, als Gewissenswürmer sondergleichen, ebenfalls nur ungerne Waffen in Kriegsgebiete liefern; dass sie sie trotzdem liefern, steht seit Jahr und Tag außerhalb jedweder Diskussion. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Es handelt sich um eingeübte, ermüdende Formen von pseudodemokratischen Rotationsverfahren, bei denen ausgemacht ist, dass alles sich nur deshalb ändert, damit gleichzeitig alles beim Alten bleibt.

Monica:

Der berühmte Ausspruch von Burt Lancaster, der den Fürsten spielt, aus Viscontis „Leopard“.

Wittenberg:

Als Norbert Blüm aus dem Amt schied, hat er noch einmal selbstbewusst betont, ihm brauche niemand etwas über Reformen zu erzählen, denn er habe 20 Jahre lang Reformen gemacht.

Monica:

Wittenberg, ich habe für heute bereits ein Übermaß an politischen Belehrungen geduldig ertragen. Ich finde deshalb, du solltest mich zum Essen ausführen.

Wittenberg:

Die bisherigen Schätzungen haben sich als viel zu optimistisch erwiesen. Nicht

„100 Jahre SPD

tun dem Kapital nicht weh!“

─ sondern 150, 200, 250 Jahre. Solange die Sozialdemokratische Partei Deutschlands existiert, wird sie es als ihre erste Bürgerpflicht begreifen, die Kapitalmacht sichern zu helfen.

(12.08.2016)