Freiherr vom Stein Denkmal

„Freie Affen“ Teil 2

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Zweite Szene: Reformationsplatz

Monica und Wittenberg haben ihren Kram gepackt und sind mit den beiden Hunden, Anastasia und Zoltan, ein Stück weiter zur Nikolaikirche gezogen. Sie sitzen nun auf, vor und neben einer dunkelgrün lackierten Parkbank. Im Hintergrund ist das von Schinkel entworfene Denkmal für die Spandower Gefallenen der Befreiungskriege, 1812 bis 1815, zu sehen.

Monica:
„Die dieses Erz dir, Wandrer, nennt, Im Sieg für unser Freiheit Glück sind
sie gefallen,
Der Dank liess ihre Heldennahmen
nicht verhallen,
Das sie nacheifernd noch der späte
Enkel kennt.“

Wittenberg:
Das ist schön, Monica. — Woher hast du das?

Monica:
Ich bin schon öfter um das Denkmal herumgegangen. Auf einem der metallenen, golden glänzenden Schilde steht es geschrieben. Von dem Schild mit dem Eisernen Kreuz aus gerechnet, ist es das dritte; das dritte von insgesamt vieren; dem Eisernen Kreuz genau gegenüber.

Wittenberg:
Ein Speer ist oben abgebrochen.

Monica:
Vielleicht sollte man es reparieren lassen?

Wittenberg:
Aber wer möchte dafür die Verantwortung übernehmen?

Monica:
Brauchen wir unbedingt die Art „Verantwortung“, um ein bedeutendes historisches Denkmal zu pflegen?

Wittenberg:
Die Dinge verstehen sich nicht von selbst.

Monica:
„Verantwortung“ klingt auf alle Fälle gar nicht schlecht; es klingt sogar ein wenig imponierend; ein letztes Wort, das keine weiteren Fragen neben sich dulden will; der rätselhafte Schlussstein einer verbalen gotischen Kathedrale.

Wittenberg:
„Verantwortung“ gehört sogar zu den Lieblingswörtern. — Politiker gebrauchen es häufig.

Monica:
Sie meinen es nicht so.

Wittenberg:
Sie begreifen es nicht.

Monica:
Es stinkt faulig aus ihrem Maule.

Wittenberg (empört): Monica!

Monica:
Aber ich habe doch gar nichts gesagt, Genosse Wittenberg.

Wittenberg:
Die Namen auf den Schildern sind interessant.

Monica: Interessant?

Wittenberg:
Lies bitte ein paar Namen vor; dann wirst du schon sehen; dann wirst du schon hören; du wirst es empfinden.

Monica steht auf und geht schlendernd, gegen die Uhrzeigerrichtung um das Denkmal herum. Die beiden Wolfshunde folgen ihr. Vor dem vierten Schild bleiben alle stehen, und Monica schaut aufmerksam hoch auf die eingravierten Namen.

Monica (liest vor):
„Am 20. April 1813 beim Sturm von Spandow fielen …“
Monica tritt noch einen Schritt nach rechts.

Monica (liest weiter):
„SAREVKA
SZARNOWSKY
TIBOROWSKY
TALINSKY
WARMBIER
NEUNFELD”

Wittenberg:
Und? Hast du begriffen?

Monica:
Das klingt beinahe so wie eine Kampfgemeinschaft aus Deutschen, Polen, Deutsch-Balten und vielleicht sogar Russen gegen Napoleon.

Monica und die Hunde gesellen sich wieder zu Wittenberg. Der stimmt erst seine Gitarre, legt das Instrument dann aber doch wieder weg.

Wittenberg:
Wollen wir noch die Münzen beim Bankautomaten einzahlen?

Monica:
Ich glaube, das lohnt heute nicht.

Wittenberg:
Ein Gang zur Bank ist immer lohnenswert.

Monica:
Die Leute geben heute nicht mehr so viel wie vor ein paar Jahren noch. Sie sind selber ärmer geworden.

Wittenberg:
Die Menschen sind ärmer gemacht worden.

Monica:
Du meinst: absichtlich?

Wittenberg:
Ich meine: absichtlich, durchdacht, vollbewusst und frevelhaft.

Monica:
Von Verbrechern? Oder gar von Verschwörern?

Wittenberg:
Von sozialdemokratischen Agendapolitikern.

Monica:
Das hätte ich mir denken können, dass du dieselbe alte Platte immer wieder auflegen musst, wie ein Zwangsneurotiker, der Pflastersteine abzählt oder die Fensterreihen an Hausfassaden kontrolliert.

Wittenberg:
Schröders „Agenda 2010“ [sprich: „Agenda zwanzig-zehn“] war der erste Streich. Es handelte sich um einen Generalangriff gegen den Wert der Ware Arbeitskraft in Deutschland. Das Ziel bestand darin, einen volkswirtschaftlich relevanten, ausufernden Niedriglohnsektor zu schaffen. Das Ziel wurde erreicht. Jetzt erleben wir Phase II oder die „Agenda 2020“ [sprich: „Agenda zwanzig- zwanzig“]. Es geht den wirtschaftlich und politisch Herrschenden nunmehr darum, durch das scheinbar spontane Gestatten einer unverhältnismäßigen, weitgehend unkontrollierten, massenhaften Zuwanderung eine „industrielle Reservearmee“, also ein Arbeitslosenheer aufzubauen, das die Löhne und Gehälter weiterhin zuverlässig unter Senkungsdruck hält. Zweitens erhofft man sich von den in der Hauptsache muselmanischen Migranten eine nennenswerte Anhebung der Geburtenrate in Deutschland. Die Heimat soll ordentlich peupliert werden. Parallel läuft spätestens seit Bundeskanzler Schröders völkerrechtswidrigem Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien eine erschreckende, niederdrückende Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Dagegen steht keine machtvolle Opposition. Die Grünen sind längst zur Kriegspartei mutiert; die Linken scheuen leninistische Kampfmethoden wie der Teufel das Weihwasser. Zu befürchten steht dementsprechend eine Eskalationsstufe III oder eine „Agenda 2030“ [sprich: „Agenda zwanzig-dreißig“].

Monica:
Und das bedeutet?

Wittenberg: Krieg.

Monica:
Wie? Krieg?

Wittenberg:
Sie werden wahrscheinlich nicht vollkommen wahnsinnig werden und das Wagnis eingehen, Russland abermals direkt anzugreifen. Aber gewaltsame Versuche zu einer Zersplitterung oder „Balkanisierung“ der ehemaligen Sowjetunion liegen durchaus im Bereich des Möglichen.

Monica:
Deine unglückselige Partei
Ist immer mit dabei, Wittenberg.
Ich wundere mich, dass du es schon
So viele Jahre bei den Sozis aushältst.
Die SPD ist längst ins bürgerliche Lager
Hinübergewechselt. Der Klassenfeind ist
Ihr unterwegs abhanden gekommen.

Wittenberg:
Die große Schnauze eines liberalen oder christlich-demokratischen oder sozialdemokratischen „Atlantikers“ in der Bundesrepublik Deutschland ist mindestens zwei Meter hoch und drei Meter breit. Das Raubtiergebiss ist von daher besonders gut zu erkennen.

Monica:
Ganz ähnlich hat sich Kurt Tucholsky schon vor bald 100 Jahren
ausgedrückt.

Wittenberg:
Ich erinnere mich; damals ging es um Regierungspräsidenten oder
Regierungsoberpräsidenten oder dergleichen.

Monica:
Für einen Mann, der keinerlei Aussagen treffen möchte, drückst du dich heute aber ziemlich bestimmt aus, Wittenberg.

Wittenberg:
Das Risotto ist mir schlecht bekommen.

Monica:
Die Krabben vermutlich …

Wittenberg:
… oder die Currysauce.

Sebastian kommt über den Reformationsplatz gelaufen und setzt sich zwischen Monica und Wittenberg auf die Parkbank. Er ist vollständig in Schwarz gekleidet: Hut, Jackett, T-Shirt, Jeans, Boots. Für die Hunde hat er ansehnliche Mettenden dabei.

Sebastian:
‘n Abend z’sammen!

Monica:
Guten Abend, Alter.

Wittenberg:
Sebastian, sei mir gegrüßt!

Sebastian:
Anastasia ist fetter geworden. Ihr solltet den Hunden mehr Bewegung gönnen. Ich meine, schließlich seid ihr für die Gesundheit der beiden verantwortlich.

Wittenberg und Monica lachen kurz auf, schauen aber gleich darauf wieder ernsthaft drein.

Sebastian:
Ist mir etwas entgangen?

Monica:
Wir sprachen gerade über Gott und die Welt im Allgemeinen und über den Begriff der „Verantwortung“ im Besonderen.

Sebastian:
Es handelt sich dabei nicht in erster Linie um einen Begriff; vielmehr geht es darum, sich im Lauf der Zeit und des Lebens eine spirituelle Grundhaltung zu erarbeiten, die weit über das eigene, beschränkte Ich hinausweist und etwas wie Sozialität allererst ermöglicht.

Monica:
Warum bist du eigentlich nicht Pfarrer geworden, Sebastian?

Sebastian:
Ich habe daran gedacht, aber …

Wittenberg:
Was aber?

Sebastian:
Aber dann habe ich mich doch dagegen entschieden.

Monica:
Aber weshalb?

Sebastian:
Indem ich mich nicht dafür entscheiden konnte, ist die Entscheidung dagegen letzten Endes wie von selbst gefallen.

Wittenberg: Merkwürdig.

Monica:
Ich kenne dergleichen auch von mir, aber in völlig anderen
Zusammenhängen oder Bereichen.

Sebastian (zu Wittenberg):
Wenn du nachdenkst und dich dabei um völlige Aufrichtigkeit dir selbst gegenüber bemühst, wirst du feststellen, dass das ebenso starre wie nervöse im Abseits Verharren eines der zentralen Verhaltensmuster des vereinzelten, entfremdeten Individuums in unserer manipulativen, von der Warenproduktion beherrschten Gesellschaftsordnung ist.

Wittenberg:
Monica würde mir niemals die Chance geben, mich einfach durch
versuchtes Nichtverhalten aus dieser oder jener Affaire zu ziehen.

Sebastian:
Das zeichnet Monica aus.

Monica:
Die Frage ist, ob Wittenberg es auch zu schätzen weiß.

Sebastian:
In der Hinsicht sind Zweifel angebracht.

Wittenberg:
Redet nur weiter über mich; lasst euch nicht stören.

Monica:
Wittenberg verweigert sich total. Er sieht noch nicht einmal einen Sinn darin, seinen Wörtern eine feststehende, nachvollziehbare, verständliche Bedeutung zuzugestehen. So gerät ihm jeder Satz zur Hypothese.

Sebastian:
Verstörend und faszinierend zugleich, mein Freund.

Wittenberg:
Manche Dinge sind schwer zu definieren, einfach deshalb, weil es keine allgemein gültige Definition gibt.

Sebastian:
Was habt ihr heute am Abend noch vor?

Wittenberg:
Wir haben uns „Roman Holiday“ auf DVD gekauft.

Monica:
Er hat sich „Ein Herz und eine Krone“ auf DVD gekauft.

Sebastian:
Audrey Hepburn?

Monica:
Natürlich Audrey Hepburn, aber Wittenberg behauptet frech und dreist und lügnerisch, den Film noch einmal sehen zu wollen.

Sebastian:
Aber du wirst doch nicht etwa auf eine amerikanische Filmschauspielerin aus den fünfziger und sechziger Jahren eifersüchtig sein?

Monica:
Auf wen sollte ich sonst eifersüchtig sein? Er kennt ihre ganze verdammte Lebensgeschichte auswendig! — Für ihn ist Audrey Hepburn mindestens Weltkulturerbe.

Wittenberg:
Wusstet ihr, dass Audrey Hepburn einen Psychiater geheiratet hat?

Sebastian:
Ich glaube, du hast es neulich erst erwähnt.

Monica:
Einen Psychiater, der sie ausgesprochen mies behandelt hat.

Sebastian:
Aber du glaubst hoffentlich nicht, dass ihr damit ganz recht geschehen ist?

Wittenberg:
Jetzt bin ich aber mal gespannt wie ein Flitzebogen …

Monica springt auf und rafft ihre Sachen zusammen: Strohhut, Rucksack, Decke und — eichenen Wanderstab.

Monica:
Anastasia! Zoltan! Aufstehen! Wir müssen jetzt gehen!

(22.07.2016)