„Freie Affen“ Teil 14

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Vierzehnte Szene: Reformationsplatz

Auf dem Reformationsplatz, im Prinzip deutlich voneinander abgegrenzt: Einerseits Wittenberg, Monica, Zoltan, Anastasia, Richard, Sebastian, Johannes — er trägt einen schwarzen Adidas-Trainingsanzug —; andererseits eine bunt zusammengewürfelte Clique von Alkoholikern. Die Protagonisten verteilen sich auf einem Areal rund um zwei oder drei Sitzbänke. Im Hintergrund die Häuser an der Nordseite des Platzes; zentral gelegen, mit schöner grüner Fassade, das „Café · St. Nikolai · Museum“, Reformationsplatz 12. Rechts hinten, mit dem Rücken zum Publikum, einer dieser unsäglichen, plumpen „Buddy Bären“ (oder wie man die nennt), angestrichen in der Hauptsache in einem merkwürdigen, an Mostrich erinnernden Ockerton, die Rückenpartie zudem mit bläulichen Längsstreifen verziert. Man kann den Eindruck gewinnen, der Bär trage einen altmodischen Badeanzug und sei weniger dem Zoo als vielmehr dem Strandbad Wannsee entlaufen.

Johannes:
Beim Hinsetzen eben hätte ich mir beinahe den Fuß verstaucht.

Richard:
Wie denn das, altes Ungeschick?

Johannes:
Unter der Bank ist eine richtige Kuhle. Ein falscher Tritt und schon bist du Invalide.

Richard steht auf und inspiziert die (vom Publikum aus gesehen) rechte Sitzbank. Er geht in die Hocke und tastet vorsichtig nach dem Fundament unter der linken Bankstütze.

Richard:
Johannes hat recht. Das Fundament hier ist auf etwa 20 cm freigelegt. — Vielleicht sollten wir das Gartenbauamt alarmieren?

Wittenberg:
Die Mitarbeiter dort werden nicht ausgerechnet von uns Aufträge entgegennehmen wollen.

Monica:
Wieso nicht? Wir sind besorgte Bürgerinnen und Bürger wie alle anderen auch. Es geht um Unfallverhütung.

Richard:
Wir könnten die App des Ordnungsamtes nutzen.

Johannes:
Heute hat die Polizei eine ganze Bande hochgenommen — lauter Taschendiebe.

Richard:
In der Altstadt?

Johannes:
Am Vormittag. Am hellichten Tage. Alles Ausländer. Gleich abschieben. Es langt. — Der Papst hat gut reden.

Wittenberg:
Man muss die Umstände, unter denen heimatvertriebene Migranten und Asylanten in Deutschland delinquent werden, zunächst einmal differenziert analysieren, bevor man nach dem Henker ruft.

Monica:
Das hast du wunderschön gesagt, Wittenberg.

Johannes:
Du musst dir um die kriminellen Ausländer keine Sorgen machen, Wittenberg; die Gendarmen werden mit Hilfe eines Dolmetschers ein Protokoll aufnehmen und die ganze Mischpoke nach kurzer Zeit wieder laufen lassen.

Monica:
Einer der Sexualstrolche von Silvester in Köln soll jetzt vor Gericht gestellt werden.

Richard:
Das habe ich im Radio gehört. Ein Algerier aus einer Gruppe von etwa zehn Leuten. Die Anklage lautet auf: „umzingeln, belästigen, bestehlen“.

Wittenberg:
Es wird wieder nichts dabei herauskommen. Die Zeugin kann nach über vier Monaten keinen einzelnen Algerier guten Gewissens als Täter identifizieren.

Johannes:
Anklägerische oder staatsanwaltschaftliche Symbolpolitik.

Sebastian:
Unser Reformationsplatz gilt mittlerweile als „Brennpunktgebiet“. Die Polizei darf Platzverweise erteilen. Wer nicht innerhalb weniger Minuten der Aufforderung, den Platz zu verlassen, folgt, kann bis zu 24 Stunden eingeknastet werden.

Im Hintergrund machen Touristen Fotos von dem „Buddy Bären“.

Monica:
Es ist wirklich angenehm ruhig heute.

Wittenberg:
Man könnte leicht ins Meditieren geraten.

Sebastian:
Worüber möchtest du nachsinnen?

Wittenberg:
Ich frage mich, wie der Niedergang der deutschen Sozialdemokratie vielleicht aufzuhalten geht.

Sebastian:
Kein aufbauendes Thema, Wittenberg, das zieht einen eher mit in die Depression. Warum freust du dich nicht einfach an dem schönen Frühlingswetter?

Wittenberg:
Wir liegen nach den Umfrageergebnissen in der Wählergunst bloß noch fünf Prozent über der AfD! Mit „sozialer Gerechtigkeit“ verbindet kaum noch jemand die SPD. Und unsere Parteiführung fährt unbeirrbar weiter ihren Schlingerkurs in Richtung Mitte.

Sebastian:
Eine letzte Chance gibt es, aber erst müssen die Wahlergebnisse für SPD und Linke weiter bedrohlich in den Keller gehen.

Wittenberg:
Und dann?

Sebastian:
Dann muss es einen Wiedervereinigungsparteitag in Berlin geben. SPD und Linke, Gabriel oder sein Nachfolger und Lafontaine, müssen sich verständigen und Sahra Wagenknecht zur Vorsitzenden und Kanzlerkandidatin der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wählen lassen.

Wittenberg:
Das werden die kleinen und mittleren Funktionäre in unseren beiden sozialdemokratischen Parteien zu verhindern wissen.

Sebastian:
Einen anderen Ausweg sehe ich nicht.

Wittenberg:
Und im Grunde ist es dir auch egal? Du hast mit der Politik abgeschlossen?

Sebastian:
Aber auch umgekehrt — die Politik hat mit mir abgeschlossen. Diskussionsbeiträge der antikapitalistischen, leninistischen Linken werden instinktiv abgelehnt. Sie gelten unbesehen und ungeprüft als des Teufels. Im Gegensatz dazu lassen sich beispielsweise in Spandau eifrige Bemühungen beobachten, AfD-Sympathisanten „einzubinden“, wie es beschönigend heißt, und für die SPD in die Bezirksverordnetenversammlung zu entsenden.

Wittenberg:
Ich war bei der entscheidenden Kreisdelegiertenversammlung in der Bertolt-Brecht-Oberschule ausnahmsweise anwesend, als stellvertretender Delegierter. Die große Mehrheit der Kreisdelegierten ließ sich auf die neunmalklugen Spielchen des Kreisvorstandes ein und unterstützte die AfD-Leute.

Monica:
Das darf man niemandem erzählen, und es glaubt einem sowieso keiner.

Aus der Gruppe der Alkoholiker löst sich Rollstuhlfahrer Hagen und fährt zu Wittenberg & Co. die kurze Strecke hinüber.

Hagen:
Wittenberg, möchtest du dich mit einem kleinen Einsatz an unserem Wettspiel beteiligen? Der vorletzte Auftritt von Hertha in dieser Saison muss unbedingt entsprechend gewürdigt werden.

Wittenberg:
Mein Urvertrauen in Hertha BSC war nie besonders ausgeprägt, Hagen, und ich fürchte, sie verlieren sogar noch zu Hause gegen die Kellerkinder.

Hagen:
Dann wettest du eben auf Niederlage. Zahlreiche angebliche Hertha-Fans tun das in realistischer Einschätzung der Möglichkeiten „ihrer“ Mannschaft.

Wittenberg:
Das wäre aber ein ausgesprochen unehrenhaftes Verhalten von mir.

Hagen:
Na und? Wenn’s ums Geld geht?

Richard:
Schlimmer als Herthas Niederlagen sind für mich die anschließenden Kommentare des Trainers. Aber er hat Glück. Sein Unernst und sein analytisches Unvermögen werden ihm als „Humor“ abgenommen. — Zum Schluss haben wir wahrscheinlich wieder einen banalen Platz im Mittelfeld zu erwarten.

Monica:
Eine Freundin von mir hatte vor einiger Zeit einen befristeten Job im „Haus des deutschen Sports“ auf dem Olympiagelände. Dabei konnte sie beobachten, wie die jungen Hertha-Cracks mit ihren teuren Autos umgehen. Sie regte sich richtig darüber auf. „Wenn ihr Vater,“ so sagte sie ungefähr, „sich jemals einen Wagen dieser Kategorie hätte leisten können, das wäre für ihn vermutlich der Höhepunkt seines Lebens gewesen, und er hätte das Teil gehegt und gepflegt wie seinen Augapfel.“

Johannes:
Genau, sage mir, wie du mit deinem Auto umgehst, und ich sage dir, wer du bist. — Das ist eine hundertprozentige Lebensregel.

Hagen:
Gibt es irgendein Thema auf der Welt, das ihr Ganoven nicht sofort ins Allgemeingültige und Ewige zu verkehren wisst?

Wittenberg:
Bayern München — dazu fällt uns nichts mehr ein.

Monica:
Hoffentlich schafft Werder Bremen den Klassenerhalt. — Den grünen Jungs gönne ich es von Herzen.

Hagen rollt zurück zu seiner Clique.

Sabine:
Und? Haben sie ein paar Euronen herausgetan?

Hagen:
Fehlanzeige.

Caspar:
Ich habe meine Eingangstür jetzt endlich verstärken können. Drei Stahlriegel. Nicht einmal die GSG 9 kommt ohne Schwierigkeiten in meine Behausung.

Sabine:
Das glaubst aber auch nur du! In meiner Kampfsportzeit hätte ich dir dein Gerümpel notfalls noch selber eingetreten.

Marianne:
Menschen, die sich einmal entschlossen haben, ein
Unbestimmtes Stück des Lebensweges gemeinsam zu gehen,
Liebende, wie sie gemeinhin genannt werden, machen,
Es lässt sich leider nicht vermeiden, unterwegs Fehler.

Sabine:
Ich dachte, mit dem Thema „Männer“ sind wir durch, und zwar endgültig.

Marianne:
Sie drücken sich falsch oder feindselig aus,
Geben, womöglich mitten in der Nacht,
Unbedachte Äußerungen von sich,
Trinken viel zuviel Alkohol,
Bieten Anlass zur Eifersucht,
Wollen gewisse Gewohnheiten,
Die den Partner zur Weißglut treiben,
Partout nicht ablegen.

Sabine:
Du scheinst dir mächtig Gedanken gemacht zu haben, Marianderl. Aber glaube mir: Das ist alles für die Katz! Die Kerle sind es nicht wert, dass wir unsere kostbare Lebenszeit an sie verschwenden.

Marianne:
Fragen der Hygiene sind keineswegs zu unterschätzen,
Auch die notwendige Verständigung über gemeinsam
Als angenehm empfundene Sexualpraktiken
Gelingt nicht immer reibungslos.

Sabine:
Im Prinzip läuft alles einzig und allein darauf hinaus, ob und wie lange sie unsere Titten mögen. Früher oder später erkennen sie ihren Irrtum und suchen sich eine neue Spielkameradin.

Marianne:
Die Möglichkeit einer Trennung
Steht permanent einerseits
Als Risiko, als Bedrohung, als Gefahr,
Andererseits aber auch als Chance
Zu Neuanfang und Befreiung
Im logischen und emotionalen Raum
Des Beziehungsalltags.

Sabine:
Um sich trennen zu können, muss man erst einmal zusammenfinden.

Marianne:
Auf diese Weise lassen sich derartige Entwicklungen
Zur Psycho-Physiologie des Liebeslebens wenigstens
Annäherungsweise und halbwegs verständlich
Beschreiben, aber das Gesagte bleibt unbefriedigend,
Denn es bietet offenkundig keinen allgemein verbindlichen
Und gangbaren Ausweg aus der Misere.

Sabine:
Die meisten Paare, die ich kenne, bleiben nur deshalb zusammen, weil sie zu feige sind, einen Schlussstrich zu ziehen.

Marianne:
Auffällig ist indes eine stets und ständig wiederkehrende
Radikalität des Anspruchsdenkens, die ansonsten
Überhaupt nicht radikale Persönlichkeiten ausgerechnet
Gegenüber ihrem Lebensgefährten glauben entfalten zu müssen.
Die althergebrachte Forderung nach dem „idealen Gatten“
Oder dem „reifen Charakter“, dem „anständigen Menschen“
Wird natürlich längst nicht mehr in unverblümter Art und Weise
                                                                                                            erhoben.
Die Methoden sind auch in Liebesdingen merklich subtiler geworden.

Sabine:
Subtilität und Finesse müssen mir bei meinen Männern komplett entgangen sein.

Marianne:
Es könnte sich deshalb als nützlich erweisen, über offene
Und mehr noch über versteckte Erscheinungsformen des
                                                                        Irrationalismus
In der Ästhetik des Liebeslebens nachzudenken. Eine einseitig,
Um nicht zu sagen: undialektisch aufgefasste Sexualität bietet sich
Als Einfallstor für Hirngespinste und Dämonen aller Art geradezu an.

Sabine:
Lecken, blasen, ficken — das und nur das verstehen Männer unter einer befriedigenden Sexualität. Als Schulungsmaterial dienen ihnen Pornofilme. Sie sind narzisstische, polymorph perverse, aufgeklärte und manipulative Phallokraten.

Johannes (ruft hinüber zu Sabine):
Komm her, mein Schatz, ich möchte dich übers Knie legen!

Sabine:
Du dürres Klappergestell, wage es nur, mich anzurühren!

Ein Junge kommt mit dem Fahrrad angefahren. Er hält neben Hagen an und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der wirkt plötzlich wie elektrisiert und wendet seinen Rollstuhl (nach links) in Richtung Carl-Schurz-Straße.

Hagen (zu seinen Leuten, die sich um ihn gruppiert haben):
Abflug!

Johannes (zu Sabine):
Sabine, warte! Du hast versprochen, mir Zigaretten zu drehen.

Sabine:
Hast du Tabak und Blättchen gekauft?

Johannes rennt Sabine und der Clique um Rollstuhlfahrer Hagen hinterher. Wittenberg und die Seinen schauen ihnen allen verwundert nach.

Monica:
So etwas nennt man wohl nicht bloß in Künstlerkreisen einen „unglaublich starken Abgang“.

Sebastian:
Vielleicht sollten wir uns auch lieber verkrümeln?

Wittenberg:
Das kommt überhaupt nicht in Frage!

Richard:
Gut überlegen, dann erst die große Schnauze, Wittenberg.

Wittenberg:
Wir haben nichts verbrochen, Richard, und folglich ein Recht, uns hier aufzuhalten.

Richard:
Was glaubst du, warum sind Hagen und seine freien Affen so schnell verschwunden?

Wittenberg:
Vielleicht weil sie Hosenscheißer sind?

Monica:
Sie sind einfach abgehauen, ich fasse es nicht, und ohne uns ein Wort zu sagen.

Plötzlich ertönt ein schrilles, ohrenbetäubendes Pfeifen. Aus Richtung Havelstraße (von rechts her) stürmt eine Gruppe vermummter, schwarz gekleideter Gestalten auf die Bühne. Es handelt sich um mindestens ein halbes Dutzend Mann. Jeder hat einen schweren Baseballschläger als Waffe dabei. Der Trupp nimmt geordnet nebeneinander Aufstellung. Die Baseballschläger werden wie ein Gewehr geschultert. Monica hält Zoltan, Wittenberg hält Anastasia fest.

Der Anführer der Vermummten (schreit):
Freiheit! Heimat! Vaterland!

Zwei Vermummte bleiben stehen und schlagen ihre Baseballschläger immer wieder im Rhythmus gegeneinander: Eins – zwei – eins, zwei, drei – eins, zwei, drei, vier – Let’s go! Die anderen Vermummten heben ihre Baseballschläger hoch und rücken langsam gegen Monica und Wittenberg, gegen die Hunde, gegen Richard und Sebastian vor. Plötzlich setzt der Schlagrhythmus aus.

Die Vermummten (schreien im Chor):
Freiheit!

Das rhythmische Gegeneinanderschlagen der Holzknüttel setzt wieder ein und hört nach relativ kurzer Zeit abermals auf.

Die Vermummten (schreien im Chor):
Heimat!

Die beiden Taktgeber beginnen noch einmal. Wieder kehrt Stille ein.

Die Vermummten (schreien im Chor):
Vaterland!

Endlich gibt der Anführer der Vermummten mit seiner furchtbaren Trillerpfeife das Zeichen zum Angriff.

Anführer der Vermummten (schreit):
Draufschlagen, Männer! Keine Gnade!

Die Wolfshunde bellen. Während der Tumult auf der Bühne vollends erschreckende Formen annimmt, schließt sich der Vorhang.

12. September 2016

„Freie Affen“ Teil 13

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Dreizehnte Szene: Zitadelle

Monica und Wittenberg, Anastasia und Zoltan besuchen die große Ausstellung historischer Bildhauerkunstwerke aus den Berliner Bezirken, die auf den Höfen der Spandauer Zitadelle zusammengetragen worden sind und nun dem staunenden Publikum in völlig neuer Perspektive präsentiert werden. Höhepunkte sind zweifellos die steinernen Überbleibsel der legendären „Puppenallee“ aus dem Tiergarten und, natürlich, das Leninhaupt. Es stammt von dem Lenin-Denkmal her, das zu DDR-Zeiten auf dem Leninplatz in der Nähe des Volksparks Friedrichshain gestanden hatte. Nicht lange nach der konterrevolutionären „Wende“ war die siegreich gebliebene Reaktion darangegangen, das zum Gedenken an die Russische Oktoberrevolution errichtete Mahnmal unter Polizeischutz zu zerstückeln und niederzureißen. Immerhin noch recht zahlreich erschienene Gegendemonstranten hatten dabei das seltene Vergnügen, den zähen, gleichsam militanten Widerstand des granitenen Lenins gegen seine gekauften Zerstörer beobachten zu können. Die willigen Destruktivkräfte stießen auf ungeahnte Schwierigkeiten. Sie brauchten mehrere Tage, um überhaupt erste Ansatzpunkte für ihre in der Tat beeindruckenden Werkzeuge zu finden. Die gemeine Denkmalsschändung verzögerte sich beträchtlich; die steigenden Kosten spielten allerdings, wie nicht anders zu erwarten, für den bürgerlichen Staat nur eine untergeordnete Rolle.

Monica:
Und du bist damals leibhaftig live dabei gewesen?

Wittenberg:
Selbstverständlich!

Monica:
Aber was habt ihr euch davon versprochen? Was wolltet ihr erreichen?

Wittenberg:
Wir haben die Abrissarbeiten beobachtet und uns diebisch darüber gefreut, dass sie nur quälend langsam vorwärts kamen.

Monica:
Aber ihr habt die Bauarbeiter doch nicht etwa angegriffen?

Wittenberg:
Nein, das nicht, wir wussten genau, dass unser Spiel verloren war, aber wir wollten dabeibleiben, bis zum bitteren Ende.

Monica:
Der Bauplatz war sicherlich abgesperrt?

Wittenberg:
Worauf du dich verlassen kannst! Alles rundherum vergittert, bloß der Stacheldraht hat noch gefehlt. Polizeibeamte in ausreichender Anzahl standen ebenfalls zur Verfügung. Aber alles blieb friedlich. Wir wurden nicht einmal zurechtgewiesen oder zur Ordnung gerufen. Man beobachtete uns so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich. — Heute würde die Polizeiführung vermutlich von einer erfolgreich angewendeten Deeskalationsstrategie sprechen.

Monica:
Es ging ums Ausharren?

Wittenberg:
Weißt du, es ging um den Kopf.

Monica:
Es geht immer um den Kopf.

Wittenberg:
Der Plan der technisch intelligenten und begabten Handlanger bestand darin, Lenin „sauber“ zu enthaupten, das provozierende Denkmal sozusagen „denkmalgerecht“ zu schänden. — Sie haben es sich nicht getraut, es einfach zu zertrümmern oder zu sprengen.

Monica:
Auch Gewalt gegen Sachen braucht eine gewisse Ästhetisierung, um nicht von vornherein abstoßend zu wirken.

Wittenberg:
Jedenfalls gingen nicht bloß Stunden, sondern mehrere Tage ins Land, bis es den Bauarbeitern endlich gelang, die ersten Granitblöcke des Denkmals abzutragen. — Die Kosten explodierten.

Monica:
Wenn man deutschen Proleten genug bezahlt, sind sie offenbar zu jeder Schandtat bereit.

Wittenberg:
So würde ich es auf keinen Fall formulieren wollen, Monica.

Monica:
Bestimmt nicht, Wittenberg, das wäre dir wieder einmal viel zu direkt und zu drastisch.

Wittenberg:
Unsere ungeteilte Aufmerksamkeit sollte vielmehr den angeblich demokratischen Auftraggebern für die technische Intelligenz und für deren Zuarbeiter gelten. Sozialdemokraten vom berlinischen Typus sehen naturgemäß wenig Sinn darin, ausgerechnet Lenins ehrend zu gedenken. — Nichtsdestotrotz, die Hände sollen ihnen abfaulen, den verdammten Kollaborateuren!

Monica:
Wittenberg, nun mäßige dich augenblicklich wieder. Immerhin erlebt der Genosse Lenin aus Ost-Berlin jetzt in Spandau, also im westlichsten Westen des alten West-Berlins, eine Art monumentaler Wiederauferstehung. — Erinnerst du dich an Brechts Gedicht von der „unbesieglichen Inschrift“?

Wittenberg:
Sie ließ sich nicht übertünchen, oder?

Monica:
Es wurden verschiedene Methoden ausprobiert, die Inschrift auszutilgen, aber es gelang nicht.

Wittenberg:
Die Episode stammt aus einem Gefängnis. Politische Gefangene hatten die Parole „Hoch Lenin!“ an eine Wand geschrieben, und zwar mit ihren bescheidenen, im Knast­alltag zuhandenen Mitteln.

Monica:
Mit Kopierstift. — Der Gefängnisdirektor gab den Befehl, die Inschrift zu löschen.

Wittenberg:
Die Subalternen schienen wieder einmal zu gehorchen. Aber alle penibel angewandten handwerklichen Arbeitsweisen brachten eher das gegenteilige Resultat.

Monica:
Die famose Inschrift kam am Ende jedweden Arbeitsganges wieder hervor. Sie tauchte immer wieder auf.

Wittenberg:
Was genau taten die Inschriftenauslöscher? — Es fällt mir nicht mehr ein.

Monica:
Der erste Beauftragte erschien mit einem langstieligen Pinsel und einem Eimer Kalk. Er zog aber die Schriftzüge nach mit seinem Kalk. Das Ergebnis kann sich sogar der kleine Moritz gut vorstellen.
Der zweite Beauftragte, wieder ein Maler, wollte es besser machen. Er nahm einen breiten Pinsel und bestrich die Wand großflächig mit Kalk, so dass die „drohende Inschrift“, wie Brecht sie nennt, für einige Stunden verschwand. Aber nach dem Trocknen der Farbe war am nächsten Morgen wieder gut zu lesen: „Hoch Lenin!“
Der dritte Beauftragte der Gefängnisdirektion war ein Maurer. Er gab sich große Mühe und kratzte und schabte mit Messern und Geräten in stundenlanger Arbeit Buchstabe für Buchstabe von der Zellenwand. Hernach sah er sich das Ergebnis seiner Arbeit an, schien zufrieden und verschwand. Die „unbesiegliche Inschrift“ stand nun, farblos zwar, aber kämpferischer als zuvor, tief in die Mauer hineingeschlagen: „Hoch Lenin!“
Der Gefängnisdirektor gab schließlich den Befehl, die Mauer abzureißen und neu zu errichten.

Wittenberg:
Und wenn die Arbeiter sich nun absichtlich dumm angestellt hätten?

Monica:
Vorstellbar wäre das durchaus; ich meine, merkwürdig ist das Verhalten von Handwerkern allemal. — Insbesondere die Idee, die verbotene Inschrift zu allem Überfluss auch noch auszukratzen oder auszustemmen verdient Verwunderung. — So blöde kann eigentlich niemand sein, oder vielleicht doch?

Wittenberg:
Wie gefallen dir die Eisenbolzen in Lenins Kopf?

Monica:
Die sehen schlimm aus, abscheulich, wie das chirurgische Instrumentarium aus einem Horrorfilm.

Wittenberg:
Es geht immer um den Kopf.

Monica:
Daran wurden sicherlich die Drahtseile befestigt?

Wittenberg:
Und dann gingen die Werktätigen aus dem Westen endlich daran, Lenins Kopf abzuseilen. — Ich werde es nie vergessen.

Monica:
Es geht immer um den Kopf.
Es geht immer gegen den Kopf.
Es geht immer darum, einen klaren Kopf zu verhindern.
Es geht immer um die Herrschaft über die Köpfe.

Wittenberg:
Und der Kampf um die Köpfe wird mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln geführt.

Monica:
Und es ist auch nicht immer leicht, den Kampf um die Köpfe als solchen zu erkennen.

Wittenberg:
Das Ideologische, das Falsche, das Verkehrte, das Gefährliche weiß sich meistens gut zu tarnen.

Monica:
Ideologische Chimären.

Wittenberg:
Chimären sind perverse …

Monica:
… aus verschiedenen Tierarten, die sich nicht kreuzen lassen, zusammengesetzte Phantasmagorien.

Wittenberg:
Wohin gehen wir jetzt?

Monica:
Zum Reformationsplatz.

Wittenberg:
Ich frage mich bloß, warum sie Lenins Kopf auf die Seite gelegt haben?

Monica:
Vielleicht weil es so am einfachsten war? Wenigstens brauchten die Museumsleute keine komplizierten technischen Vorrichtungen zu entwickeln, um den Kopf aufrecht zu halten.

Wittenberg:
An Lenins Gesichtsausdruck wurde nicht manipuliert; die frischen Wunden im Granit würde man sehen können.

Monica:
Es hätte auch sicherlich in der Zeitung gestanden.

Wittenberg:
Oder im Internet, Monica, heutzutage stehen die wichtigen Sachen eher im Internet.

Monica:
Und was nicht im Internet steht, das gibt es nicht oder es ist nicht wichtig.

Wittenberg (nachdenklich):
Es sieht schon ein bisschen so aus, als ob Lenin schläft.

Monica:
Ein schlafender Riese …

Wittenberg (erfreut):
Ein schlafender Riese, der eines Tages wieder erwachen könnte?

Monica:
Wie Barbarossa? Der Kaiser Rotbart?

Wittenberg:
Warum nicht?

Monica:
Fürchtest du dich vor dem Tod, Wittenberg?

Wittenberg:
Vor dem Tod nicht, eher vor dem Sterben.

Monica:
Was stellst du dir vor?

Wittenberg:
Ich glaube, dass ich Krebs schrecklich finden würde.

Monica:
Wahrscheinlich gibt es niemanden, der das nicht ebenso empfinden dürfte.

Wittenberg:
Kehlkopfkrebs.

Monica:
Wieso gerade der?

Wittenberg:
Ich könnte mir vorstellen, dass ich das eines Tages kriegen werde.

Monica:
Aber wie kommst du nur darauf, Wittenberg?

Wittenberg:
Das hängt mit meinem kaputten Magen zusammen, mit dem ständigen säuerlichen Aufstoßen und dem Reflux in der Nacht.

Monica:
Und weiter?

Wittenberg:
Das reizt und schädigt die Schleimhäute im Rachenraum und in der Speiseröhre. Und wenn es richtig ist, dass Krebs sich vor allem an Epithelübergängen ausbildet, dann sind wir genau an der richtigen Stelle.

Monica:
Wenn die Zeit gekommen ist, wenn die Stunde schlägt, ist der Tod der beste Freund, den der Mensch jemals hatte.

Wittenberg:
Er nimmt dich in die Arme und begleitet dich auf deinem letzten Gang.

Monica:
Aber ist das nicht furchtbar morbide, was wir jetzt reden, Wittenberg? Wenn die Leute uns hören könnten …

Wittenberg:
Sie würden sich wundern, sich vielleicht sogar empören. Aber später, wieder zu Hause angekommen, würden sie vielleicht darüber nachdenken.

Monica:
Lenin wird für entsetzliches Unrecht verantwortlich gemacht.

Wittenberg:
Hauptsächlich von halbgebildeten Ideologen, die es ablehnen, sich gründlich mit ihm zu beschäftigen.

Monica:
Ein „lupenreiner Demokrat“ ist er aber sicherlich nicht gewesen.

Wittenberg:
Wohl kaum.

Monica:
Das scheint dich nicht besonders zu stören, Wittenberg, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.

Wittenberg:
Es gab damals Bürgerkrieg, Hungersnöte und zu allem Überfluss auch noch Interventionen aus dem Ausland. Das gerade eben nach dem Ersten Weltkrieg neu formierte Polen hatte nichts Besseres zu tun, als Krieg gegen Russland zu führen. ─ Stalin hat den Polen das niemals vergessen.

(5. September 2016)

„Freie Affen“ Teil 12

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Zwölfte Szene: Behnitz und Kolk

Monica und Wittenberg, Anastasia und Zoltan haben sich zur katholischen Kirche St. Marien am Behnitz geflüchtet. Rechts neben der Kirche, vor einem kleinen Anbau, der sicherlich nicht als „Seitenschiff“ bezeichnet zu werden braucht, nach hinten versetzt, steht eine Bank, auf die Monica und Wittenberg sich setzen. Vor der Bank eine alte Brunneneinfassung aus Feldsteinen, etwa ½ Meter hoch. Die Kirchenfenster sind vergittert worden, um die bunten Scheiben vor den Steinwürfen der Vandalen zu schützen. Direkt oberhalb der Bank ist eins dieser Fenster zu sehen, links am Hauptgebäude ein oder zwei weitere, etwas größere. Rechts außen an dem Anbau das auffällige, helle Regenabflussrohr. Unweit der Bank, rechts, steht ein Abfallbehälter, der allerdings schon länger nicht geleert worden ist. Der Wind hat allerlei Müll aus Papier und Plastik in der kleinen gärtnerischen Anlage vor dem Zaun, der das Kirchengelände von dem benachbarten städtischen Kinderspielplatz trennt, verteilt.

Wittenberg:
Die Stadt und den Müll haben wir schon — jetzt fehlt uns nur noch der Tod.

Monica:
Sage mal, Wittenberg, wie kommst du bloß auf solche trüben Gedanken?

Wittenberg:
Das macht die Melancholie ganz automatisch.

Monica:
Dagegen solltest du aber dringend etwas unternehmen!

Wittenberg:
Leichter gesagt als getan.

Monica:
Juliane und ich, wir wollen ins Fitnessstudio gehen.

Wittenberg:
So? Warum denn?

Monica:
Das brauchst du nicht ganz genau zu wissen, Wittenberg, es handelt sich einmal mehr um eine Frauensache.

Wittenberg:
Frauensachen sind echt ätzend, meiner Meinung nach.

Monica:
Dann sollen es am besten auch unsere Sachen bleiben, Wittenberg, belaste deine komplizierte Psyche nicht zusätzlich damit.

Wittenberg:
Wollt ihr Muckis machen?

Monica:
Das sicherlich nicht, jedenfalls nicht in erster Linie; es geht um systematisches Bewegungstraining, um Dehnen und Strecken.

Wittenberg:
Früher wurden Menschen aus den niederen Ständen aufs Rad geflochten. Das war auch eine Art Einübung in Dehnen und Strecken.

Monica:
Wittenberg, deine Assoziationen sind heute wieder einmal vollkommen unmöglich!

Wittenberg:
Ich habe mir ein Messer gekauft.

Monica:
Was denn für ein Messer?

Wittenberg:
Das offizielle Kampfmesser der Bundeswehr. In einem Laden …

Monica:
Zeig her!

Wittenberg kramt in seinem Rucksack, sucht und findet endlich das Messer. Er reicht es Monica herüber. Die zieht das Messer vorsichtig aus der Messerscheide.

Monica:
Du musst vollkommen verrückt sein, Wittenberg!

Wittenberg:
Es war kein spontaner Kauf, das muss ich zugeben. — Ich ging mit der Idee gewissermaßen schwanger.

Monica:
Du hast etwas ausgebrütet?

Wittenberg:
Neulich in der U-Bahn. Ich wollte Gleisdreieck umsteigen, Richtung Ruhleben. Die Tür war schon offen, aber der Zug rollte noch langsam weiter. Plötzlich stand der Mann, der die Obdachlosenzeitung verkaufen wollte, hinter mir und flüsterte mir zu: „Spring doch! Warum springst du denn nicht? Traust du dich nicht zu springen?“ Dann kicherte er wie ein Irrsinniger, so als wäre er aus der Landesnervenklinik oder aus einem schlechten amerikanischen Gangsterfilm entsprungen. — Ich versuche, mich an das Gesicht des Mannes zu erinnern; es gelingt mir nicht.

Monica:
Das ist direkt unheimlich, Wittenberg, erzählst du mir auch die Wahrheit?

Wittenberg:
Es war ein kleiner Mann; er reichte mir höchstens bis zur Schulter.

Monica:
Einer, der dir bis zur Schulter reicht, ist immer noch ziemlich groß, du langes Elend.

Wittenberg:
Eben noch hatte er mit beachtlichem rhetorischem Geschick den Fahrgästen der BVG seine Postille angepriesen, dabei Friedfertigkeit und Harmlosigkeit heuchelnd, um gleich darauf einen Wildfremden zu provozieren, sich in Unfallgefahr zu begeben. — Denn das Abspringen von einem noch fahrenden Zug ist riskant. Wer solche Tricks nicht von Jugend auf eingeübt hat, sollte in späteren Jahren nicht mehr damit anfangen.

Monica:
Kam das unverhofft? Hast du ihm eine Zeitung abgekauft?

Wittenberg:
Nein, ich kaufe niemals etwas in der U-Bahn oder in der S-Bahn. — Ich müsste mein Portemonnaie hervorholen.

Monica:
Und?

Wittenberg:
Ich meine, schon damit würde ich mich angreifbar machen.

Monica:
Interessant …

Wittenberg:
Wahnsinnig interessant!

Monica:
Doch, schon. — Hattest du vielleicht eine Art Vorahnung?

Wittenberg:
Bestimmt ein unbehagliches Gefühl, als er hinter mir stand, noch bevor er zu sprechen begann — ja.

Monica:
Woran hast du in diesem Augenblick gedacht?

Wittenberg:
Daran, dass es in Berlin brutale Menschen gibt, die sich einen Spaß daraus machen, ihnen vollkommen Unbekannte vor den einfahrenden Zug zu stoßen.

Monica:
Und schützt du dich vor denen?

Wittenberg:
Wenn ich auf einen Zug warten muss, dann stelle ich mich immer mit dem Rücken zur Bahnsteigwand oder ich setze mich auf eine der Bänke, die normalerweise in der Mitte der Bahnsteige aufgestellt sind. Erst wenn der Zug eingefahren ist, gehe ich nach vorne zum Einsteigen. — Und wenn mir die eine Bahn zu voll ist, warte ich schon mal auf die nächste.

Monica:
Das grenzt aber bedenklich an Paranoia, findest du nicht?

Wittenberg:
Eine milde Form von Paranoia hat in Berlin noch niemandem geschadet.

Monica macht Anstalten, die Schärfe des Messers mit der Spitze ihres linken Zeigefingers zu prüfen.

Wittenberg:
Mach das lieber nicht, Monica! — Das Ding ist wirklich verdammt scharf.

Monica:
Was hat du damit vor, Wittenberg?

Wittenberg:
Ich weiß es noch nicht.

Monica:
Muss man langsam Angst vor dir bekommen?

Wittenberg:
Ich hoffe, dass das nicht der Fall sein wird.

Monica:
Aber du bist dir deiner selbst keineswegs sicher?

Wittenberg:
Nein.

Monica:
Deine tödliche Waffe ist hiermit beschlagnahmt, Wittenberg, du bekommst sie erst wieder zurück, wenn du klarer siehst.

Monica steckt das Messer wieder in die Messerscheide. Dann zieht sie ein recht großes, violettes Tuch aus der Brusttasche ihrer Jacke und wickelt das gefährliche Mordinstrument langsam, sorgfältig darin ein. Schließlich verstaut sie alles in den beträchtlichen Tiefen ihres stattlichen, vermutlich aus Bayern herstammenden Rucksackes.

Monica:
So! Die Gefahr ist zunächst einmal gebannt.

Wittenberg:
Wenn du es sagst, Monicaleben.

Monica:
Ich habe, ehrlich gesagt, schon daran gedacht, mir Pfefferspray zu besorgen.

Wittenberg:
Aber du hast es am Ende doch sein lassen?

Monica:
Nein, ich habe es mir anders überlegt.

Wittenberg:
Warum?

Monica:
Es kam mir plötzlich albern vor.

Wittenberg:
Albern?

Monica:
Es wäre in meinen Augen eine vollkommen inadäquate Überreaktion gewesen, wenn ich mich auf eine solch merkwürdige Weise bewaffnet hätte.

Wittenberg:
Außerdem kommt es beim Pfefferspray immer auf die Windrichtung an. Man muss höllisch aufpassen, sonst kriegt man das Zeug selber ins Gesicht.

Monica:
Was weißt du über Diabetes?

Wittenberg:
Wenig. — Wieso?

Monica:
Bei Julianes Mutter sind überhöhte Blutzuckerwerte festgestellt worden.

Wittenberg:
Manchmal fallen Diabetiker in Ohnmacht. Vor hier auf jetzt. Eben ist dein Chef noch dabei, dich anzuschnauzen, aber plötzlich und unerwartet sackt er in seinem Polstersessel zusammen und ist komplett weggetreten. Man muss ihn auf die Couch oder notfalls auf den Fußboden legen und sich um ihn kümmern. Am besten, man ruft für alle Fälle den Notarzt. Wahrscheinlich ist der Diabetiker längst wieder auf den Beinen, wenn der Rettungswagen eintrifft, aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.

Monica:
Ein Schockzustand?

Wittenberg:
Gerade zum Beginn einer Diabetes-Therapie, wenn das richtige Medikament herausgefunden und die genaue Dosierung ermittelt werden muss, kann es zu solchen hypoglykämischen Zwischenfällen kommen. Deshalb sollten Zuckerpatienten stets etwas Zucker oder besser noch einen Apfel bei sich haben.

Monica:
Aber ich denke, Zuckerpatienten haben mehr als genug Zucker in ihrem Körper, im Blut und auch sonst, sogar im Urin?

Wittenberg:
Willst du dich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen?

Monica:
Warum nicht?

Wittenberg:
Das Schlüsselwort, das auf der ganzen Welt verstanden wird, lautet: „Insulin“.

Monica:
Man müsste wissen, wie Insulin funktioniert.

Wittenberg (doziert):
Die Bauchspeicheldrüse ist ein kleines, längliches, fleischiges und doch weiches Organ. Es liegt zwischen Magen und Wirbelsäule in der Nähe des Zwölffingerdarmes. Die Sekrete der Bauchspeicheldrüse wurden als „Trypsin“, „Diastase“ und „Lipase“ bezeichnet. Es galt bereits als gesichert, dass sie eine überaus bedeutsame Rolle bei der Verdauung der Eiweiße, Kohlehydrate und Fette zu spielen hätten.
Der Pathologe Paul Langerhans, Professor an der Universität Freiburg im Breisgau, entdeckte 1869 unter dem Mikroskop einen Zelltypus im Pankreas, der sich im Aussehen völlig von allen anderen dort vorkommenden Zellen unterschied. Langerhans berichtete, diese Zellen sähen „wie Inseln“ aus. — Nach ihrem Entdecker wurden jene spezifischen und rätselhaften Zellstrukturen der Bauchspeicheldrüse als „Langerhans’sche Inseln“ benannt. Langerhans konnte allerdings noch nichts über die besondere Funktion „seiner“ Inselzellen aussagen.
Der amerikanische Pathologe Eugene Lindsay Opie stellte im Jahre 1901 fest, dass bei einigen Patienten, die an Diabetes gestorben waren, das Gewebe der Langerhans’schen Inseln geschrumpft und verhärtet war. Dr. Opie diagnostizierte einen Verfallsprozess, der auch an anderen Geweben festgestellt werden kann und als „hyaline Degeneration“ bezeichnet wird.
Zwei an der Universität Straßburg tätige deutsche Ärzte, Dr. Oskar Minkowski und Dr. von Mering, hatten bereits berichtet, dass ein Hund, dem das Pankreas experimentell entfernt worden war, nach wenigen Tagen schwer zuckerkrank geworden sei.
Mitten im Ersten Weltkrieg, 1916, war es dann der britische Physiologe Sir Edward Sharpey-Schafer, der die Theorie aufstellte, Diabetes entstehe und entwickele sich durch das Fehlen eines internen Sekrets der Langerhans’schen Inselzellen. Sharpey-Shafer gab der von ihm postulierten, wirkungsmächtigen Substanz den Namen „Insulin“ — nach dem lateinischen Wort „insula“ für „Insel“.
Damit war das Arbeitsprogramm einer neuen Forschergeneration vorgegeben: Es ging primär darum, etwaige Sekrete der Langerhans’schen Inseln zu isolieren, zu reinigen und zu standardisieren, um sie zunächst im Tierversuch und anschließend bei der Behandlung von Menschen erfolgreich und lebensrettend einsetzen zu können.
Von dem berühmten französischen Wissenschaftler Claude Bernard stammte die Hypothese, das Pankreas müsse als eine Art „Doppelorgan“ verstanden werden: Einerseits produziere es die bekannten Enzyme oder „Verdauungssäfte“ — ein Vorgang der „äußeren Sekretion“. Andererseits sei es durchaus vorstellbar, dass der vielleicht von den Langerhans’schen Inseln herstammende antidiabetische Faktor direkt in das Blut abgegeben werde, um hernach im Gesamtorganismus seine Wirkungen zu entfalten — dies wiederum sei als ein Vorgang der „inneren Sekretion“ aufzufassen. Das nach wie vor hypothetische „Insulin“ konnte somit unter die 1897 von den Engländern Bayliss und Starling vorgeschlagene Kategorie der „Hormone“ gefasst, also der Klasse jener Stoffe zugeordnet werden, die zunächst in einem bestimmten Gewebe oder Organ synthetisiert und durch das Kreislaufsystem verteilt, erst an einem entfernteren Ort ihren besonderen Wirkmechanismus zur Anwendung bringen.
Den entscheidenden Durchbruch zur Bekämpfung der damals oft tödlich verlaufenden Zuckerkrankheit verdankt die Menschheit dem Kanadier Frederick Grant Branding, seinem Mitarbeiter Charles Herbert Best, Amerikaner urkanadischer Herkunft, sowie den Hunden Susy und Marjorie, außerdem zahlreichen anderen Versuchstieren, die für die Isolierung des Insulins ihr Leben lassen mussten.
Dr. Branding hatte 1921 die im Rückblick einfach und folgerichtig erscheinende Idee — man muss nur eben im passenden Augenblick darauf kommen —, die Bauchspeicheldrüsen von Hunden durch Abbinden der Ausführungskanäle zum Zwölffingerdarm einer kontrollierten Atrophie zuzuführen. Nur diejenigen Zellen, die die Verdauungsenzyme produzieren, sollten verkümmern, nicht jedoch die Langerhans’schen Inseln. Aus den unbeschädigten Inselzellen wollten Branding und Best dann das theoretisch vorausgesagte Insulin in möglichst reiner Form, also unbeeinträchtigt von Beimengungen der Verdauungsenzyme, die vermutlich alle früheren Versuche, Diabetes mit Pankreas-Extrakten zu behandeln, fehlschlagen ließen, extrahieren.

Monica beugt sich zu Anastasia und Zoltan herab und streichelt sie liebevoll.

Monica:
Habt ihr genau zugehört, was Professor Wittenberg uns eben in populärwissenschaftlicher Privataudienz erzählt hat? Nein? Also wenn Susy und Marjorie nicht gewesen wären, müssten heutzutage noch immer viele Menschen an der Zuckerkrankheit elendiglich zugrunde gehen. — Was sagt ihr dazu?

Anastasia und Zoltan drängen zum Aufbruch. Sie springen ein paar Meter voraus und drehen sich dann nach Frauchen und Herrchen um, die endlich aufstehen und nachkommen mögen.

Wittenberg:
Hunde sind eben doch die besseren Menschen.

(1. September 2016)