„Freie Affen“ Teil 18

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Achtzehnte Szene
Polizeirevier Moritzstraße III

Polizistin:
Wie ich höre, waren Ihre Aussagen nicht gerade ergiebig.

Wittenberg:
Wir haben dem nichts mehr hinzuzufügen, Madame.

Polizistin:
Das wird sich erst noch erweisen. Sie halten sich bitte zu unserer Verfügung.

Monica:
Keine Ahnung, wie hält man sich denn der Polizei zur Verfügung?

Polizistin:
Haben Sie vor, die Stadt zu verlassen? Planen Sie einen Auslandsaufenthalt?

Monica:
Ich möchte gerne nach Florenz.

Wittenberg:
Das gehört zu Monicas Kindheitsträumen, wissen Sie, Menschen aus dem Geschlechte Tonio Krögers begegnen sich früher oder später auf den Straßen und Plätzen, in den Kirchen und Museen von Florenz wieder und tauschen ihr Bedauern darüber aus, sich nicht schon vor Jahren auf den Weg gemacht zu haben.

Polizistin:
War dieser Herr Kröger auch am Nachmittag oder am Abend auf dem Reformationsplatz anwesend?

Wittenberg:
Nicht, dass ich wüsste.

Monica:
Ich habe ihn nicht gesehen.

Polizistin:
Sie dürfen jetzt gehen, aber Sie halten sich, wie gesagt, zu unserer Verfügung.

Monica:
Wir wollen noch auf unseren Freund Richard warten, wenn Sie nichts dagegen haben.

Polizistin:
Bitte sehr, aber verhalten Sie sich ruhig.

Die Polizistin geht ab. Monica und Wittenberg machen es sich in dem bereits bekannten Warteraum bequem.

Wittenberg:
Tatsache ist, dass Noske und Pabst in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919 miteinander telefoniert haben. Pabst benötigte jedenfalls Rückendeckung; außerdem hoffte er auf brauchbare Instruktionen, auf Befehle, auf die er sich berufen und die er ausführen lassen konnte. Die Rückendeckung bekam er; mit den Befehlen haperte es. — Ich möchte versuchen, das Telefonat zu rekonstruieren.

Monica:
Warte, ich lasse es klingeln!

Monica wählt Wittenbergs Nummer mit ihrem Smartphone an. Der einsetzende Klingelton kann nicht anders als peinlich bezeichnet werden. Wittenberg verzieht das Gesicht, als hätte er auf eine besonders saure Zitrone gebissen, lässt es trotzdem eine Weile klingeln, dann nimmt er das Gespräch mit seinem Smartphone entgegen. — Monica und Wittenberg stehen auf und laufen während ihres Telefongespräches vor dem Getränkeautomaten auf und ab.

Monica:
Hier spricht Noske. Guten Abend, Pabst. Was ist los?

Wittenberg:
Pabst, GKSD, Hotel Eden. Herr Minister, ich danke für Ihren Rückruf.

Monica:
Keine Fisimatenten, Pabst, kommen wir zur Sache!

Wittenberg:
Die für die Unruhen in der Hauptsache verantwortlichen Landes- und Hochverräter Liebknecht und Luxemburg sind hier im Stabsquartier Hotel Eden in unserer Hand.

Monica:
Glückwunsch, Pabst, wie Sie das wieder gedeichselt haben!

Wittenberg:
Danke vielmals, Herr Minister, aber ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Die beiden Revoluzzer waren unfassbar leichtsinnig. Sie hielten sich gemeinsam in einer Wilmersdorfer Wohnung auf und ließen sich widerstandslos von der Bürgerwehr festnehmen.

Monica:
Egal, Mensch, Hauptsache ist, wir haben das Gesindel!

Wittenberg:
Sehr wohl, Herr Minister, die Frage ist nun natürlich die nach der weiteren Vorgehensweise.

Monica:
Ich denke, wir sind uns einig darüber — und ich darf das im Namen der Regierung, der anzugehören ich die Ehre habe, zum Ausdruck bringen —, dass der unselige Bürgerkrieg, der einzig durch die Schuld der Kommunisten in unserem Vaterlande tobt, baldmöglichst beendet werden sollte.

Wittenberg:
Selbstverständlich, Herr Minister, unser geliebtes Deutschland muss so schnell wie möglich zu innerer Ruhe und äußerem Frieden zurückfinden.

Monica:
Es bestätigt sich einmal mehr, wir verstehen uns, Hauptmann Pabst.

Wittenberg:
Darf ich um genauere Instruktionen bitten, Herr Oberbefehlshaber, zur endgültigen Lösung der Spartakistenfrage? Wie sollen wir uns der beiden Bolschewistenführer entledigen?

Monica:
Es kann nicht meine Sache sein, das zu entscheiden. Daran würde die Partei zerbrechen. Für solche Maßnahmen ist sie unter keinen Umständen zu haben.

Wittenberg:
Was also schlagen Sie vor, Herr Minister?

Monica:
Holen Sie sich die Genehmigung des Generals von Lüttwitz zur Erschießung der beiden Aufrührer ein. — Schließlich sind das seine Gefangenen!

Wittenberg:
Eine solche Genehmigung zur Liquidierung von Zivilisten werde ich von Herrn General niemals bekommen.

Monica:
Dann müssen Sie eben selbst verantworten, was zu tun ist, Pabst!

Wittenberg:
Vielen Dank, Herr Minister, ich wünsche eine gute Nacht.

Monica:
Sie können sich auf mich verlassen, Hauptmann, so wie ich mich in dieser schweren Stunde auf Sie verlassen muss. — Guten Abend.

Monica und Wittenberg schalten ihre Smartphones aus. Sie nehmen ihre Plätze auf den roten Stühlen wieder ein.

Wittenberg:
Hauptmann Pabst hat ungefähr 50 Jahre lang über seine mörderische Zusammenarbeit mit der SPD-Spitze die Schnauze gehalten. Er fand den Noske damals vorbildlich; und die ganze Partei, von deren linken, „halbkommunistischen“ Flügel einmal abgesehen, habe sich in dieser leidigen Affaire tadellos benommen. Aber dann, um das Jahr 1969, stach den Pabst doch noch der Hafer. Er erging sich in Andeutungen. Sprach mit seinem Rechtsanwalt, Herrn Kranzbühler, teilte Herrn Ertel vom Fernsehen manches mit, schrieb sogar an seinen Memoiren. Die Puzzleteile mehrten sich, ließen sich folgerichtig zusammensetzen. Auch der Gedanke, sein Heimatland schulde ihm endlich Dank und Anerkennung, sollte vielleicht sogar ihm Denkmäler setzen, Straßen und Plätze nach ihm benennen, scheint dem Hauptmann, mittlerweile Major Pabst im hohen Alter von bald 90 Jahren nicht mehr gänzlich fremd gewesen zu sein. Aber bis zuletzt galt seine Fürsorge der SPD. In ihrem Interesse wollte er gerne weiterhin „an der Wahrheit vorbeikommen“ und verhindern helfen, dass in die Öffentlichkeit gerate, was dort nach seiner Auffassung keineswegs hingehöre.

30. November 2016

„Freie Affen“ Teil 17

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Siebzehnte Szene

Polizeirevier Moritzstraße II

Wittenberg und Richard sitzen nebeneinander auf den roten Stühlen des Warteraumes. Richard steht auf und geht zu dem Coca-Cola-Automaten hinüber.

Richard:
Möchtest du auch?

Wittenberg:
Nein, vielen Dank, ich hatte schon eine.

Richard steckt Münzen in den Automaten und wählt bedächtig eine Orangenlimonade namens „Fanta“. Erst klimpert das Wechselgeld hell ins Ausgabefach; dann poltert die Flasche dumpf rumorend nach unten in den Schacht zur Entnahme.

Richard:
Er gibt sogar Wechselgeld heraus!

Richard entnimmt das Wechselgeld, geht in die Hocke und zieht seine Fanta aus dem Automaten, dann setzt er sich wieder neben Wittenberg.

Wittenberg:
Es ist natürlich schwierig bis unmöglich, dem Scheidemann direkt oder dem Scheidemann persönlich etwas nachzuweisen. — Es gibt nichts Schriftliches.

Richard:
Nicht einmal den kleinwinzigsten Mordbefehl?

Wittenberg:
Der elende Zettel, den Plaumann und Prinz gefälscht hatten, bewirkte eher das Gegenteil. Als nämlich die Fälschung aufflog, konnten Scheidemann und Konsorten triumphieren und sich gewissermaßen für „rehabilitiert“ ausgeben.

Richard:
Und wie steht es mit mündlichen Aufforderungen zum Lynchmord an Zivilisten?

Wittenberg:
Prinz hatte nicht nur Scheidemanns Unterschrift, sondern auch die von Georg Sklarz gefälscht. Darin immerhin steckt ein größeres Körnchen historischer Wahrheit.

Richard:
Es gibt keine historische Wahrheit, Wittenberg, das kannst du dir abschminken.

Wittenberg:
Georg Sklarz trat damals als der mächtige und solvente Finanzmann des Regiments „Reichstag“ auf. Das wiederum gilt den Historikern als eine sozialdemokratische Gründung. Aber man darf sich von dem demokratischen Brimborium und dem verlogenen Namen nicht täuschen lassen. Die Konterrevolution gab den Ton an auch in diesem Regiment. Daran ändern einige Kommandeure mit Parteibuch nicht das Geringste.

Richard:
Bis hierhin habe ich alles verstanden, mein Alter, aber was beweist das schon?

Wittenberg:
Das Regiment „Reichstag“ unterhielt einen Spitzelapparat mit der beeindruckenden Bezeichnung „Helferdienst der Sozialdemokratischen Partei, Sektion 14“.

Richard:
Und?

Wittenberg:
Die „Sektion 14“ ist meiner Ansicht nach der Schlüssel zum Verständnis der nachfolgenden Ereignisse.

Richard:
Das riecht immens nach „Verschwörungstheorie“, Wittenberg, bitte nimm es mir nicht übel!

Wittenberg:
Aber es handelt sich um eine Verschwörung, Richard, worum denn sonst?

Richard:
Also gut, erzähle weiter.

Wittenberg:
Von „Sektion 14“ wurde im Namen von Philipp Scheidemann und dem Schieber und Spekulanten Georg Sklarz die Parole ausgegeben, es ständen sagenhafte 100.000 Mark Kopfgeld für die Ergreifung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zur Verfügung. — Es existieren sogar Gerichtsprotokolle über diese Dinge.

Richard:
Tot oder lebendig?

Wittenberg:
Auch Fritz Henck, der Schwiegersohn Scheidemanns wird in dem Zusammenhang genannt. Er hat immer wieder ausdrücklich bestätigt, das Blutgeld stehe bereit, man müsse es sich bloß noch verdienen.

Richard:
Es gab sie also doch, die sozialdemokratische Mordprämie auf die Köpfe von Spartakistenführern?

Wittenberg:
Und ob es sie gegeben hat! — Ich habe noch nicht in den Zeitungsarchiven nachgesehen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass nichts von alledem wenigstens als Gerücht in die Kampfpresse jener Tage geraten sein sollte.

Richard:
Sozialdemokraten sind Mörder, Wittenberg, wann trittst du endlich aus der Partei aus?

Wittenberg:
Einen erschreckenden Einblick in die damals mutwillig erzeugte Pogromstimmung bekommt man durch die Aufzeichnungen von Mathilde Jacob.

Richard:
Den Namen habe ich, ehrlich gesagt, noch nie gehört. Wer ist das? Oder wer war das?

Wittenberg:
Mathilde Jacob war Freundin, Vertraute, Sekretärin, Kampfgenossin von Rosa Luxemburg, aber auch Mitarbeiterin von Leo Jogiches und Paul Levi. Sie wurde im Januar 1919 denunziert, von Regierungssoldaten festgenommen, zunächst zur Garde-Kavallerie-Schützen-Division gebracht und anschließend besagtem Regiment „Reichstag“ überstellt, das im Reichstagsgebäude mehr hauste als stationiert gewesen ist. Es war lebensgefährlich. Die Soldaten hielten Mathilde Jacob für Rosa Luxemburg und benahmen sich entsprechend. In Mathilde Jacobs Aufzeichnungen heißt es:
„Die Mannschaften umkreisten mich mit aufgeblähten Nüstern gleich wilden Tieren. Ich war in eine Pogromstimmung hineingeraten, die nicht übersteigert werden konnte.“

Richard:
Meiner Ansicht nach solltest du mit deiner paranoisch-kritischen Kritik früher einsetzen, Wittenberg, nämlich im Zirkus Busch.

Wittenberg:
Interessant …

Richard:
Die berühmte Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch, in der Burgstraße, verlief aus der Sicht der revolutionär eingestellten oder gesinnten Minderheit der Rätedelegierten extrem ungünstig.

Wittenberg:
Das war bereits am 10. November 1918, wenn ich mich recht entsinne. — Im Grunde nahm die Deutsche Revolution von Anfang an einen regelwidrigen Verlauf.

Richard:
Es gibt keinen regelrechten oder den Regeln gerechten Verlauf von Revolutionen, Wittenberg, denn wer sollte die Regeln festlegen?

Wittenberg:
Der Marxismus/Leninismus postulierte das Proletariat als die wesentliche revolutionäre Klasse, an der sich die mit ihm verbündeten Klassen und Schichten der Gesellschaft im Ernstfall zu orientieren hätten. In Russland durften immerhin die Bauern ein bescheidenes Wörtchen mitreden. Aber in Deutschland wurde die Revolution nach dem verlorenen Weltkrieg ausgerechnet von Soldaten getragen, noch dazu von Marinesoldaten, also von des Kaisers vermeintlich treuesten und verlässlichsten Untertanen in Uniform.

Richard:
Aber so ist es nun einmal gewesen, Wittenberg, davon beißt die Maus keinen Faden mehr ab.

Wittenberg:
Zudem nahm der revolutionäre Prozess seinen Ausgang in der norddeutschen Provinz, in Kiel, und erreichte die Hauptstadt Berlin erst mit einiger Verspätung.

Richard:
Wirst du das jemals psychisch verkraften können, Wittenberg?

Wittenberg:
Ich meine, wir müssen das unbedingt hervorheben: Eben noch kaiserliche Marine, dann aber von einem Tag auf den nächsten urplötzlich hineingeworfen in einen Wirbel von Ereignissen an Land, auf feindlichem Territorium, von denen einer in seinen kühnsten Träumen in der Schlafkoje oder in der Hängematte nichts hätte erahnen können. — Damit sind schwere politische Fehler praktisch vorprogrammiert.

Richard:
Konkret?

Wittenberg:
Bleiben wir vorläufig noch im Zirkus Busch! Die Sozialdemokraten bemühten sich redlich, oder wenn es dir lieber ist: unredlich, die vorentscheidende Versammlung unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die USPD musste um ihre Einflussmöglichkeiten fürchten. Alles hing davon ab, wie sich die Soldatenräte verhalten und wie sie entscheiden würden.
Der „Vorwärts“ hatte geschrieben:
„Die sozialdemokratische Partei verfolgt in ihrem Streben dabei keinerlei eigennützige Ziele, sie ist nur ganz durchdrungen von dem Gedanken, daß das Werk der Rettung aus dem Abgrund, in den uns der überwundene Imperialismus gestürzt hat, nur von einer einmütigen und geschlossenen Arbeiterschaft ausgeführt werden kann.“
Der historische Verrat der SPD vom August 1914, die langen, quälenden Jahre der Burgfriedenspolitik sollten vergeben und vergessen sein. An einen abermaligen Verrat der Sozialdemokratie mochten die meisten der damals Beteiligten nicht glauben. Es herrschte eine Art „Einigungsrausch“. Die Mehrheit der Arbeiterschaft wünschte ein Zusammengehen von SPD und USPD sowie eine paritätische Zusammensetzung der zu wählenden revolutionären Institutionen.
Der Versammlung im Zirkus Busch wurde von den Revolutionären Obleuten die Wahl eines Aktionsausschusses der Arbeiter- und Soldatenräte vorgeschlagen — des späteren „Vollzugsrates“. Der Streit um dessen Zusammensetzung eskalierte. Barth von den Obleuten bzw. von der linken USPD hatte offen erklärt, in dem zu wählenden Aktionsausschuss dürfe kein einziger Rechtssozialist sitzen.
Richard Müller berichtet in seinem Buch über „Die Novemberrevolution“ über den Tumult, der Barths Erklärung folgte. Die Soldaten schrien wie wild durcheinander: „Einigkeit!“ und „Parität!“ und immer wieder „Parität!“ Redner wurden niedergebrüllt.
„Die Erregung steigerte sich zur Raserei. Die Soldaten stürzten in die Manege und auf die Vorstandstribüne. Sie drohten, ohne die Arbeiter, ohne die Parteien, allein die Revolution weiterzuführen und eine Militärherrschaft aufzurichten.“

Richard:
Militärherrschaft?

Wittenberg:
Müllers Vorwort ist datiert: „Berlin, Herbst 1924“. — Bereits in diesem frühen Stadium der Revolution, nur wenige Tage nach ihrem Beginn, müssen wir also einen massiven konterrevolutionären Zug gerade bei demjenigen Teil der Bevölkerung konstatieren, der bislang die revolutionären Ereignisse am entschiedensten vorangetrieben hatte.

Richard:
Woher sollten die unrevolutionären Deutschen wohl wissen, was sich in Revolutionszeiten schickt und was nicht?

Wittenberg:
Die Soldaten ließen sich auf keinen Kompromiss mehr ein. Sie beharrten auf dem Prinzip der Parität und verlangten kategorisch, dass ein paritätischer Aktionsausschuss gewählt werde. — Am Ende setzte sich der Aktionsausschuss aus sieben Mitgliedern der SPD, sieben Mitgliedern der USPD und 14 Soldatenräten zusammen.

Richard:
Und was lernen wir daraus?

Wittenberg:
Ich meine, dass die landläufigen Vorstellungen vom Zirkus Busch und von den Arbeiter- und Soldatenräten viel zu harmlos, viel zu gefällig daherkommen. Wir projizieren unsere eigenen Erfahrungen und Bilder von parlamentarischer Demokratie kritikarm, kritiklos zurück in die Vergangenheit von vor 100 Jahren. Es ging damals offenbar recht ruppig zu; von demokratischer Kultur konnte keine Rede sein.

Richard:
Und weiter?

Wittenberg:
Es sah von Anbeginn schlecht aus für den Sozialismus in Deutschland. Das konterrevolutionäre Bündnis von SPD und Militär kündigte sich im November 1918 bereits an. Andererseits muss festgehalten werden, dass die SPD allein es nicht geschafft hätte, die Deutsche Revolution zu stoppen. Sie war auf kaisertreue Bündnispartner dringend angewiesen und profitierte nicht zuletzt von sektiererischen, spalterischen Tendenzen der Linken, also von USPD, Revolutionären Obleuten und Spartakus.

Richard:
Es wurde ein Vollzugsrat gewählt, der mehrheitlich aus entschiedenen Gegnern und erbitterten Feinden der Revolution bestand.

Wittenberg:
Der Rat der Volksbeauftragten war bedauerlicherweise ebenfalls eine Fehlkonstruktion.

Richard:
Das ist linksradikales Gedankengut, Wittenberg, du solltest dich schämen!

Wittenberg:
Es gab die berühmte Parität nach Köpfen: drei Männer von der SPD, drei Männer von der USPD. Keine Kommunisten. Aber wenn man genauer hinschaut, lassen sich unschwer Disparitäten erkennen. Ebert, SPD, war für Inneres und Militär verantwortlich. Dr. Landsberg, ebenfalls SPD, übernahm das Ressort Finanzen. Und Scheidemann, SPD, klar, sollte über Presse und Nachrichtenwesen wachen.

Richard:
Propagandaminister Scheidemann?

Wittenberg:
Dagegen standen die Usepeter Haase für Äußeres, Barth für Sozialpolitik und Dittmann als Mädchen für Alles bzw. „Diverses“.

Richard:
Und was genau hast du daran auszusetzen? — Du betreibst retrospektive Einmischung in die Inneren Angelegenheiten der gerade im Entstehen begriffenen Weimarer Republik.

Wittenberg:
Mit solch unglückseligem Arrangement lag die Hauptverantwortung für die Sicherung und vor allem die Fortführung der Deutschen Revolution mit den Ministerien für Inneres, Militär, Finanzen und Presse in den Händen von drei sozialdemokratischen Spitzenpolitikern. — Das konnte nicht gut ausgehen. Man hatte den Bock oder das Wildschwein zum Gärtner gemacht.

Richard:
Immerhin ging das Ministerium des Äußeren an die USPD, an Dr. Haase, also an deren besten Mann.

Wittenberg:
Haase hatte gut zu tun mit der russischen Frage, die übrigens in seiner eigenen Partei höchst kontrovers diskutiert wurde.

Richard:
Also?

Wittenberg:
Also konnte Ebert, dem qua Zuständigkeiten sofort die Funktion eines informellen Reichskanzlers zufiel, im Inneren nach Belieben schalten und walten.

Richard:
Das glaubst du selbst nicht, Wittenberg, deine Ressentiments gegen die SPD befördern deine Erkenntnisfähigkeiten nur sehr bedingt.

Wittenberg:
Bereits die erste öffentliche Kundgebung der Volksbeauftragten zielte auf das Wahlrecht und die Wahlen zu einer konstituierenden Versammlung ab.

Richard:
Das nennt man im Volksmund „Demokratie“, Wittenberg, finde dich endlich damit ab!

Wittenberg:
Ich denke gar nicht daran, Kasache! — Die Bevorzugung der Konstituante implizierte selbstverständlich eine Herabsetzung der zuhandenen revolutionären Institutionen, also der Arbeiter- und Soldatenräte.

Richard:
Beim schmählichen Untergang der DDR lief das in durchaus vergleichbarer Art und Weise ab: Die bürgerlichen und konterrevolutionären Parteien konnten gar nicht schnell genug Parlamentswahlen ansetzen. In ihrer Not ließen sie sogar die historisch restlos kompromittierte Ost-Berliner Volkskammer neu wählen. Es ging wieder einmal ums Prinzip und um die Wurst — in dem Fall um das Prinzip eines anti-sozialistischen Parlamentarismus‘.

Wittenberg:
Hauptsache — ein Parlament, eine Nationalversammlung. Das ist erfahrungsgemäß die sicherste Methode zur Konsolidierung bürgerlicher Herrschaft. — Jedenfalls dachten die Volksbeauftragten nicht im Traum daran, die von den Arbeiter- und Soldatenräten verlangte rasche und konsequente Sozialisierung oder Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel in die Praxis umzusetzen. Stattdessen setzte eine eifrige Kollaboration mit dem kaiserlichen Militär und der kaiserlichen Verwaltung ein. Unter dem Oberstleutnant Koeth, ehedem Leiter der Kriegsrohstoffabteilung, nunmehr Vertrauensmann der Schwerindustrie, wurde praktisch eine Wirtschaftsdiktatur im Interesse der bürgerlichen Klassen errichtet.

Richard:
Damit war der Zug von Anfang an aufs falsche Gleis gesetzt.

Wittenberg:
Eine Vorentscheidung, ohne Zweifel.

Richard:
Ich glaube, mit der unverfrorenen Hegemonie von Sozialdemokraten, genauer: von sozialdemokratischen Parteiführern im Vollzugsrat und im Rat der Volksbeauftragten war das Schicksal und vor allem das Scheitern der Deutschen Revolution bereits besiegelt. Solch katastrophale Fehlentscheidungen lassen sich nicht mehr korrigieren. Die historische Chance zu einer sozialistischen Entwicklung in Deutschland wurde genau am 10. November 1918 ein für alle Mal verspielt.

Wittenberg:
Es fällt mir allmählich wieder ein: Die Spartakusleute um Karl Liebknecht verließen unter Protest die Versammlung. Sie lehnten es glatt ab, mit den Genossen Regierungssozialisten zusammenzuarbeiten.

Richard:
Wir dürfen also festhalten, dass dem ersten Kardinalfehler — dem ungerechtfertigten Vertrauen, das die Arbeiter- und Soldatenräte in sozialdemagogische Führerfiguren setzten — ein zweites nicht minder bedeutsames Versagen auf dem Fuße folgte — nämlich ein sektiererisches Abseitsstehen der Spartakisten und Kommunisten, das den sozialdemokratischen Konterrevolutionären ihren nächsten Verrat enorm erleichterte.

Wittenberg:
Wie Herbert Wehner schon sagte: „Wer hinausgeht, muss auch wieder hereinkommen.“

Richard:
Aber dieses Wiederhereinkommen ist der revolutionären Linken in Deutschland niemals gelungen, niemals überzeugend, niemals wirklich.

Wittenberg:
Du glaubst also, den naturgeschichtlich notwendigen Niedergang der Deutschen Revolution quasi auf die Minute genau festschreiben zu können?

Richard:
Ganz recht, mein Sohn.

Wittenberg:
Das ist selbst für mich als kritischen Paranoiker des Guten zu viel.

Richard:
Dann denke noch einmal genau nach, Wittenberg! Es ist längst nicht damit getan, singuläre Mordtaten minutiös zu rekonstruieren. Worauf es ankommt, ist, die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in den historischen Kontext einzuordnen und als besonderen, tragischen Prozesspunkt im Verlauf einer bewussten, gewollten gegenrevolutionären Inszenierung darzustellen.

Wittenberg:
Die Sozialdemokraten, die bekanntlich imperialistischen Weltkrieg und kaisertreue Burgfriedenspolitik mit zu verantworten hatten, übernahmen am bitteren Ende ohne Zaudern und ohne schlechtes Gewissen den hässlichen Part des martialischen, mörderischen Kettenhundes als neuerdings berufener Hüter des bürgerlichen Staates, wobei ihnen etliche Hektoliter vergossenes Arbeiterblut kaum der Rede wert zu sein schienen.

Richard:
Wittenberg, du musst höllisch aufpassen, dass du nicht ins bloße Schwadronieren gerätst!

Wittenberg:
Keine Sorge, ich kriege mich schon wieder ein, spätestens bis Weihnachten …

Richard:
Fein.

Wittenberg:
Wo Monica nur bleibt …

Richard:
Die Bullen werden versuchen, sie in die Zange zu nehmen.

Wittenberg:
Daran sind schon ganz andere gescheitert, Richard, sie werden sich die Zähne an ihr ausbeißen.

Richard:
Wir werden vermutlich abgehört, Wittenberg, also fahren wird lieber fort mit unserer altklugen Analyse der Weimarer Republik.

Wittenberg:
Ich wundere mich auch über das Verhalten von Leo Jogiches.

Richard:
Das war der Lover von Rosa Luxemburg?

Wittenberg:
Wenn du es unbedingt so ausdrücken möchtest, Kasache!

Richard:
Er wurde auch umgebracht?

Wittenberg:
Ja.

Richard:
Von Soldaten?

Wittenberg:
Nein, von Kriminalpolizisten.

Richard:
Gegenrevolutionäre Arbeitsteilung.

Wittenberg:
Er hat in Neukölln gewohnt, im Norden des Bezirks, in der Schwarzastraße 9, das ist in der Nähe des Bahnhofs Sonnenallee. Damals hieß die Sonnenallee noch Kaiser-Friedrich-Straße, und der S-Bahnhof war eben der S-Bahnhof Kaiser-Friedrich-Straße. Nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wollte Mathilde Jacob ihren Schützling überreden, endlich seine den Behörden und Spitzeln, den Konterrevolutionären und Mördern längst bekannte Unterkunft aufzugeben und abzutauchen, sein Leben zu retten.

Richard:
Leo Jogiches wollte nicht auf Mathilde Jacob hören?

Wittenberg:
Er dachte gar nicht daran!

Richard:
Das ist merkwürdig, aber nicht ungewöhnlich. Wenn Männer sich angewöhnen könnten, wenigstens von Zeit zu Zeit auf das zu hören, was wohlmeinende Frauen zu sagen haben, dann ginge es ihnen und der Welt wesentlich besser.

Wittenberg:
Beinahe skandalös sind die Begründungen, die er der Mathilde Jacob gab. Sie hat es aufgeschrieben. Erstens wollte er seine Wirtin nicht enttäuschen, die in der schweren Gefängniszeit zu ihm gehalten hatte. Zweitens wollte er von Mathilde wegen des Wohnens nicht mehr bedrängt werden. Er habe in seinem Leben immer nach seinem Kopf gehandelt und wolle davon nicht abgehen.

Richard:
Ein Dickkopf, möglicherweise.

Wittenberg:
Ich könnte mir sogar vorstellen, dass auch und gerade seine Wirtin, wenn er aufrichtig mit ihr gesprochen hätte, ihm weiter beigestanden und ihm zum Untertauchen und notfalls zur Flucht verholfen hätte.

Richard:
Eine Liebesgeschichte?

Wittenberg:
Keine Ahnung.

Richard:
Schade eigentlich.

Wittenberg:
Leider wissen wir gar nichts über die famose Wirtin des Leo Jogiches.

Richard:
Was passierte?

Wittenberg:
Im März 1919 wurde Leo Jogiches von einem militärischen Aufgebot unter der Führung des Kriminalbeamten Grahn in seiner Wohnung verhaftet. — Es passierte haargenau das, was Mathilde Jacob befürchtet und vorausgesagt hatte.

Richard:
Verdammt!

Wittenberg:
Jogiches galt als politisch gefährlicher Mann, als der geistige Leiter des deutschen Bolschewismus, aber es konnten ihm keine strafbaren Handlungen zur Last gelegt werden. Er wurde von Grahn und einem zweiten Kriminalbeamten, dem von der Freikorps-Brigade „Reinhard“ beauftragten Tamschick, in das Untersuchungsgefängnis Moabit geführt. Kripo-Mann Tamschick ermordete Leo Jogiches dort auf einer Treppe hinterrücks durch einen Kopfschuss. Die zynische Rechtfertigung lautete wieder einmal: „Auf der Flucht erschossen!“

Richard:
Und? Würdest du dich anders verhalten als Leo Jogiches?

Wittenberg:
Ich glaube, ich verstehe nicht recht …

Richard:
Wenn du dich vor die Wahl gestellt sähest, entweder ins Ausland zu flüchten oder in die Hände der Gegenrevolution zu fallen, wie würdest du dich entscheiden?

Wittenberg:
Ich müsste natürlich zunächst einmal meine Bücher in Sicherheit bringen; das auf jeden Fall.

Richard:
Aber dann könnte es bereits zu spät sein zum Entkommen, Wittenberg, du müsstest dich auf der Stelle oder in wenigen Stunden entscheiden.

Wittenberg:
Schwer zu sagen, Richard, ich …

Richard:
Sie würden dich erwischen, Wittenberg, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Wittenberg:
Wir kannst du das so genau wissen?

Richard:
Du würdest zu lange zögern, abwarten, hoffen.

Wittenberg:
Ich fürchte, es stimmt, was du sagst.

Richard:
Leo Jogiches war sicherlich nicht der letzte tote Bolschewik in den schweren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland.

Wittenberg:
Dieser Polizist Tamschick schoss am 17. Mai 1919 in einem Korridor des Moabiter Gefängnisses auf Heinrich Dorrenbach, den früheren Führer der Volksmarinedivision. Dorrenbach starb am nächsten Tag in der Charité an den Folgen des erhaltenen Bauchschusses.

Richard:
Und wurde Tamschick bestraft?

Wittenberg:
Soll das ein bösartiger Witz sein? Der Kriminalwachtmeister Ernst Tamschick wurde wenig später von dem Sozialdemokraten und preußischen Innenminister Wolfgang Heine zur Belohnung zum Leutnant befördert. Es heißt, Tamschick sei am Aufbau der Sicherheitspolizei in Ostpreußen beteiligt gewesen.

Richard:
Was fehlte in Deutschland 1918/19 und danach, das war der Typus des eisenharten Berufsrevolutionärs.

Wittenberg:
Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Richard:
Aus Russland?

Wittenberg:
Aus Russland schickten sie uns Radek.

Richard:
Karl Radek?

Wittenberg:
Genossen Karl Radek, den braven Soldaten Schwejk der Weltrevolution.

Richard:
Fakt ist, die deutschen Kommunisten sahen tatenlos zu, wie ihre Führer abgeschlachtet wurden.

Wittenberg:
Sie erschienen vollzählig zur Beerdigung und wählten sich anschließend neue Führer.

Richard:
Aber bedenke, wenn Rosa Luxemburg nicht getötet worden wäre, dann wäre sie 1946 erst 75 Jahre alt gewesen.

Wittenberg:
Ich hasse Mathematik und Mathematiker natürlich auch.

Richard:
Aber unsere Berechnungen sind unwiderleglich.

Wittenberg:
Ich weiß.

Richard:
Wie ging es weiter?

Wittenberg:
Friedrich Ebert hatte der revolutionären Linken eine noch nicht einmal besonders raffinierte Falle gestellt.

Richard:
Aber sie ist trotzdem hineingetappt?

Wittenberg:
Worauf du dich verlassen kannst!

Richard:
Jetzt kommt vermutlich der nächste Kriminalroman?

Wittenberg:
Ganz genau!

Richard:
Also, dann mache es nicht so spannend, Wittenberg, die Kripo wird sich sicherlich bald noch einmal mit uns befassen.

Wittenberg:
Wenn wir versuchen, die Geschichte des berühmten Spartakus-Aufstandes aus der Sicht von Ebert zu erzählen, ergeben sich urplötzlich die erstaunlichsten Perspektiven. Der Mann hatte einen Plan, und er hatte mächtige Verbündete. Es ist grundverkehrt, ihn auch nachträglich noch zu unterschätzen.

Richard:
Du möchtest natürlich mit Einzelheiten aufwarten, Wittenberg?

Wittenberg:
Wir müssten mit Eichhorn anfangen, mit Genossen Eichhorn von der USPD. — Als Oberhaupt der deutschen Sozialdemokratie und als Chef der neuen, provisorischen Regierung konnte Ebert die nach wie vor respektabel ausgerüstete Berliner Polizei unmöglich unter dem Befehl von Eichhorn belassen. Eichhorn, Genosse Eichhorn, wie gesagt, war ein linker, unabhängiger Usepeter. Und Ebert hat ihn über Nacht seines Postens enthoben, nicht etwa aus Jux und Dollerei, sondern mit klar durchdachtem, provokatorischem Kalkül. Ebert wollte Eichhorn zu einer unvernünftigen Gegenaktion verleiten, um dann den nächsten Schritt und den entscheidenden Tritt gegen die verhasste Revolution anbringen zu können.

Richard:
Was ist passiert?

Wittenberg:
Eichhorn probte tatsächlich den Aufstand. Er bewaffnete radikalere Elemente unter den Berliner Arbeitern und unternahm einen Putschversuch.

Richard:
Einen Putsch?

Wittenberg:
Eher ein bizarres, vermaledeites, aussichtsloses Pütschelchen, das Eberts hinterlistigen Erwartungen auf die vortrefflichste Weise zu entsprechen vermochte.

Richard:
Müssen wir nicht genauer hinschauen?

Wittenberg:
Das Zusammenwirken von Eichhorn und seinen Mannschaften einerseits, Liebknecht und Ledebour andererseits ließ sehr zu wünschen übrig — gar keine Frage.

Richard:
Ebert brauchte also nichts weiter zu tun als abzuwarten?

Wittenberg:
Er hatte das Militär auf seiner Seite. Die Freikorps lauerten schon auf ihre große Chance, sich als die letzte verbliebene Ordnungsmacht im Deutschen Reich zu präsentieren.

Richard:
Groener?

Wittenberg:
Der General neuen Typs natürlich auch! Er hatte in Döberitz eine schon wieder beinahe kriegsstarke Division „Reichswehr“ versammelt.

Richard:
Weiter, bitte!

Wittenberg:
Eichhorns Nachfolger hieß Ernst. Er erklärte prompt auf seiner ersten Pressekonferenz, er werde gegen die Eichhorn-Leute, sollten die ihre Waffen abzuliefern sich weigern, mit Gewalt vorgehen.

Richard:
Die KPD schaffte es immerhin noch, einige Demonstrationszüge zu organisieren.

Wittenberg:
Aber es gab keinen Versuch zur unmittelbaren Machtergreifung. Ebert und dessen Minister durften unbehelligt in der Wilhelmstraße hocken bleiben.

Richard:
Hätte eine direkte Aktion denn Aussicht auf Erfolg gehabt?

Wittenberg:
Die Reichskanzlei war lediglich von einigen Trupps Reservisten bewacht worden.

Richard:
Stattdessen besetzten die Demonstranten das Gebäude des „Vorwärts“. Sie verjagten heldenmütig die verdutzten Redakteure und brachten unnachsichtig deren Papiere in heilloses Durcheinander. Dabei hatten Redaktion und Druckerei der sozialdemokratischen Parteizeitung keinerlei strategische Bedeutung.

Wittenberg:
In dieser kritischen, vorentscheidenden Situation haben alle oppositionellen Gruppierungen auf das kläglichste versagt. Weder von der Zentrale der Unabhängigen, noch von den Revolutionären Betriebsobleuten, und interessanterweise auch nicht von den intellektuell hochstehenden Kommunisten um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht kamen kluge, resonanzfähige Worte, die die aufrührerischen Energien zu bündeln und in die richtige Richtung auf bessere Ziele zu lenken wussten. — Zur gleichen Zeit fand sich in Dahlem ein konterrevolutionärer Generalstab zusammen. Armeeminister Noske, Eberts Busenfreund, gesellte sich hinzu. Gemeinsam warteten die Herren — und keineswegs vergebens — auf Verstärkung.

Richard:
Und Radek?

Wittenberg:
Radek schlug ganz vernünftig vor, auf Schießereien zu verzichten, die Proteststreiks einzustellen und sich auf die Forderung nach Neuwahlen zu konzentrieren. — Er wollte die Partei vor der totalen Vernichtung bewahren.

Richard:
Aber man wollte nicht auf ihn hören?

Wittenberg:
Die Beziehungen zwischen Radek, der als Abgesandter Lenins galt, und Rosa Luxemburg gestalteten sich über Jahre hinweg mehr als schwierig.

Richard:
Es galt nicht das bessere Argument, sondern das sorglich gehütete Ressentiment aus alten sozialdemokratischen Tagen?

Wittenberg:
Radek jedenfalls war zu selbständigem politischen Denken sehr wohl in der Lage. Vor allem konnte er sich mit Leichtigkeit in den Kopf, in die Gehirnzellen seines jeweiligen Kontrahenten versetzen und dessen nächste Schritte antizipieren.

Richard:
Gedankenlesen gelang ihm aber nicht, Wittenberg, wir wollen nicht spintisieren und den Radek mit übernatürlichen Kräften ausstatten.

Wittenberg:
Das sicherlich nicht, aber es bleibt festzuhalten, dass Radeks politischer Instinkt selten vollständig versagte. — Man hätte besser auf ihn hören sollen.

Richard:
Rosa hörte also nicht auf Radek?

Wittenberg:
Nein, sie argumentierte sinngemäß, die KPD solle nicht die erste Partei sein, die zum Rückzug blase, das könne man getrost den Unabhängigen überlassen.

Richard:
Und was sagte Radek dazu?

Wittenberg:
Er pfiff drauf!

Richard:
So?

Wittenberg:
Aber ja! Was ist das für eine idiotische Haltung in Revolutionstagen? Die KPD, die die aufständischen Massen zu führen hat, zögert, das Richtige zu tun, und wartet darauf, dass Unabhängige Sozialdemokraten vielleicht auch auf die glorreiche Idee verfallen mögen — in einigen Stunden, in ein paar Tagen oder nächste Woche, spätestens im kommenden Monat? Die Konterrevolution fackelte nicht lange. Regierungstruppen traten zum Sturm auf das Gebäude des „Vorwärts“ an.

Richard:
Und sie gewannen selbstverständlich den ungleichen Kampf um das strategisch belanglose Zeitungshaus.

Wittenberg:
Sie fuhren sogar ganz großes Geschütz auf, um eindrucksvoll zu demonstrieren, wer die neuen alten Herren in Deutschland seien.

Richard:
Du meinst also, die Besetzung des „Vorwärts“-Gebäudes sei ein Fehler gewesen?

Wittenberg:
Die Besetzung vielleicht nicht, auf jeden Fall aber das nutzlose Ausharren dort. — Es war nicht die rechte Zeit für Märtyrertum. Die KPD, gerade erst gegründet, hätte eine gewisse Periode der „inneren Reifung“ gebraucht.

Richard:
Und sie hätte ihre besten Leute in Sicherheit bringen müssen.

Wittenberg:
Ich möchte sogar behaupten, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches hatten kein rechtes Gespür dafür, in welch schrecklicher Gefahr sie schwebten.

Richard:
Nicht?

Wittenberg:
Sie hätten längst tot sein können.

Richard:
Noch lebten sie aber und löffelten seelenruhig Erbsensuppe in der Redaktion der „Roten Fahne“, Zimmerstraße 41.

Wittenberg:
Und Liebknecht versuchte mit einem kleinen Trupp Bewaffneter das Kriegsministerium zu besetzen. — Die Deutsche Revolution als Stück aus dem Tollhaus!

Richard:
Ist das nicht ein zu strenges Urteil?

Wittenberg:
Das mögen die berühmten Nachgeborenen entscheiden, falls die sich die Mühe überhaupt machen wollen.

Richard:
Was wurde aus Radek?

Wittenberg:
Der hat großes Glück gehabt, der Radek, er wurde in seiner Steglitzer Unterkunft von Kriminalpolizisten verhaftet, mit einer Pferdedroschke, die er übrigens selber bezahlen musste, zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht, hernach im grauen Armeewagen zum Stadtkommandanten, Oberst Reinhard, nach Moabit in das berühmte Berliner Stadtgefängnis verfrachtet; von dort ging es schließlich in das nahe gelegene Gefängnis Lehrter Straße. Auch dort gab sich Radek selbstbewusst als autorisierter Repräsentant der bolschewistischen Revolution, als der offizielle Vertreter der russischen Regierung, im Range eines Botschafters. — Radeks damaliges politisches Programm lässt sich relativ einfach zusammenfassen: Er wollte bereits 1919 erste Schritte zur Annäherung der beiden Kriegsverlierer Deutschland und Russland einleiten.

Richard:
Aber wie hat der Radek sich das vorgestellt? Welche Gemeinsamkeiten oder wenigstens gemeinsamen Interessen sollte es zwischen konterrevolutionären Sozialdemokraten und kaiserlichen Offizieren auf der einen Seite und bolschewistischen Revolutionären und russischen Bauern auf der anderen Seite wohl geben?

Wittenberg:
Das blieb vorläufig noch offen.

Richard:
So?

Wittenberg:
Es musste vorläufig noch offen bleiben …

Richard:
Aber …

Wittenberg:
Kein „aber“, Richard.

Richard:
Aber das ist verbrecherisch!

Wittenberg:
Wir wollen nicht übertreiben, Richard, es handelt sich lediglich um zeitlich begrenzte Bündnisse mit Partnern, die der Revolutionär sich nicht immer nach Belieben aussuchen kann.

Richard:
Unbefriedigend.

Wittenberg:
Radek hatte versucht, mäßigend auf die deutschen Kommunisten einzuwirken. Eine gewaltsame, putschistische Machtübernahme war für ihn ganz ausgeschlossen und von Anbeginn zum Scheitern verurteilt.

Richard:
Hinterher ist man immer klüger, Wittenberg.

Wittenberg:
Nein, das war bereits im Januar 1919 ohne weiteres klar. Denn in den für ein revolutionäres Vabanque einzig und allein in Frage kommenden Arbeiterorganisationen, den Räten, war die KPD hoffnungslos in der Minderheit. Die Führung eines wie auch immer auf den Weg gebrachten sozialrevolutionären Prozesses hätte demzufolge den unentschieden bis gegenrevolutionären, ans ewige Abwarten gewohnten, alten SPD-Kadern, assistiert vielleicht von den Herren Unabhängigen, überantwortet werden müssen — ein Widerspruch in sich selbst.

Richard:
Damit schließt sich der Kreis, und wir sind im Prinzip wieder beim Zirkus Busch angelangt.

Wittenberg:
Der historische Widerspruch, der bereits im Zirkus Busch in die Welt kam, pflanzte sich, in wechselnder Gestalt, durch die aufregenden Jahre der Weimarer Republik immer wieder fort.

Richard:
Daraus folgt beklagenswerterweise, dass wir uns die elende Deutsche Revolution nicht anders denn als Wechselbalg oder als Wechselspiel zwischen Revolution und Gegenrevolution verständlich machen können, in dem die Konterrevolution leider mit ungeheuerlichen, gewaltsamen, vor- oder frühfaschistischen Methoden obsiegte.

Wittenberg:
Aber ich bestehe, wie gesagt, auf hinreichender Würdigung aller wesentlichen Einzelheiten; sonst bliebe das dialektische Schema zu abstrakt und unverbindlich. Die Täter könnten unerkannt entkommen.

25.12.2016