„Freie Affen“ Teil 14

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Vierzehnte Szene: Reformationsplatz

Auf dem Reformationsplatz, im Prinzip deutlich voneinander abgegrenzt: Einerseits Wittenberg, Monica, Zoltan, Anastasia, Richard, Sebastian, Johannes — er trägt einen schwarzen Adidas-Trainingsanzug —; andererseits eine bunt zusammengewürfelte Clique von Alkoholikern. Die Protagonisten verteilen sich auf einem Areal rund um zwei oder drei Sitzbänke. Im Hintergrund die Häuser an der Nordseite des Platzes; zentral gelegen, mit schöner grüner Fassade, das „Café · St. Nikolai · Museum“, Reformationsplatz 12. Rechts hinten, mit dem Rücken zum Publikum, einer dieser unsäglichen, plumpen „Buddy Bären“ (oder wie man die nennt), angestrichen in der Hauptsache in einem merkwürdigen, an Mostrich erinnernden Ockerton, die Rückenpartie zudem mit bläulichen Längsstreifen verziert. Man kann den Eindruck gewinnen, der Bär trage einen altmodischen Badeanzug und sei weniger dem Zoo als vielmehr dem Strandbad Wannsee entlaufen.

Johannes:
Beim Hinsetzen eben hätte ich mir beinahe den Fuß verstaucht.

Richard:
Wie denn das, altes Ungeschick?

Johannes:
Unter der Bank ist eine richtige Kuhle. Ein falscher Tritt und schon bist du Invalide.

Richard steht auf und inspiziert die (vom Publikum aus gesehen) rechte Sitzbank. Er geht in die Hocke und tastet vorsichtig nach dem Fundament unter der linken Bankstütze.

Richard:
Johannes hat recht. Das Fundament hier ist auf etwa 20 cm freigelegt. — Vielleicht sollten wir das Gartenbauamt alarmieren?

Wittenberg:
Die Mitarbeiter dort werden nicht ausgerechnet von uns Aufträge entgegennehmen wollen.

Monica:
Wieso nicht? Wir sind besorgte Bürgerinnen und Bürger wie alle anderen auch. Es geht um Unfallverhütung.

Richard:
Wir könnten die App des Ordnungsamtes nutzen.

Johannes:
Heute hat die Polizei eine ganze Bande hochgenommen — lauter Taschendiebe.

Richard:
In der Altstadt?

Johannes:
Am Vormittag. Am hellichten Tage. Alles Ausländer. Gleich abschieben. Es langt. — Der Papst hat gut reden.

Wittenberg:
Man muss die Umstände, unter denen heimatvertriebene Migranten und Asylanten in Deutschland delinquent werden, zunächst einmal differenziert analysieren, bevor man nach dem Henker ruft.

Monica:
Das hast du wunderschön gesagt, Wittenberg.

Johannes:
Du musst dir um die kriminellen Ausländer keine Sorgen machen, Wittenberg; die Gendarmen werden mit Hilfe eines Dolmetschers ein Protokoll aufnehmen und die ganze Mischpoke nach kurzer Zeit wieder laufen lassen.

Monica:
Einer der Sexualstrolche von Silvester in Köln soll jetzt vor Gericht gestellt werden.

Richard:
Das habe ich im Radio gehört. Ein Algerier aus einer Gruppe von etwa zehn Leuten. Die Anklage lautet auf: „umzingeln, belästigen, bestehlen“.

Wittenberg:
Es wird wieder nichts dabei herauskommen. Die Zeugin kann nach über vier Monaten keinen einzelnen Algerier guten Gewissens als Täter identifizieren.

Johannes:
Anklägerische oder staatsanwaltschaftliche Symbolpolitik.

Sebastian:
Unser Reformationsplatz gilt mittlerweile als „Brennpunktgebiet“. Die Polizei darf Platzverweise erteilen. Wer nicht innerhalb weniger Minuten der Aufforderung, den Platz zu verlassen, folgt, kann bis zu 24 Stunden eingeknastet werden.

Im Hintergrund machen Touristen Fotos von dem „Buddy Bären“.

Monica:
Es ist wirklich angenehm ruhig heute.

Wittenberg:
Man könnte leicht ins Meditieren geraten.

Sebastian:
Worüber möchtest du nachsinnen?

Wittenberg:
Ich frage mich, wie der Niedergang der deutschen Sozialdemokratie vielleicht aufzuhalten geht.

Sebastian:
Kein aufbauendes Thema, Wittenberg, das zieht einen eher mit in die Depression. Warum freust du dich nicht einfach an dem schönen Frühlingswetter?

Wittenberg:
Wir liegen nach den Umfrageergebnissen in der Wählergunst bloß noch fünf Prozent über der AfD! Mit „sozialer Gerechtigkeit“ verbindet kaum noch jemand die SPD. Und unsere Parteiführung fährt unbeirrbar weiter ihren Schlingerkurs in Richtung Mitte.

Sebastian:
Eine letzte Chance gibt es, aber erst müssen die Wahlergebnisse für SPD und Linke weiter bedrohlich in den Keller gehen.

Wittenberg:
Und dann?

Sebastian:
Dann muss es einen Wiedervereinigungsparteitag in Berlin geben. SPD und Linke, Gabriel oder sein Nachfolger und Lafontaine, müssen sich verständigen und Sahra Wagenknecht zur Vorsitzenden und Kanzlerkandidatin der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wählen lassen.

Wittenberg:
Das werden die kleinen und mittleren Funktionäre in unseren beiden sozialdemokratischen Parteien zu verhindern wissen.

Sebastian:
Einen anderen Ausweg sehe ich nicht.

Wittenberg:
Und im Grunde ist es dir auch egal? Du hast mit der Politik abgeschlossen?

Sebastian:
Aber auch umgekehrt — die Politik hat mit mir abgeschlossen. Diskussionsbeiträge der antikapitalistischen, leninistischen Linken werden instinktiv abgelehnt. Sie gelten unbesehen und ungeprüft als des Teufels. Im Gegensatz dazu lassen sich beispielsweise in Spandau eifrige Bemühungen beobachten, AfD-Sympathisanten „einzubinden“, wie es beschönigend heißt, und für die SPD in die Bezirksverordnetenversammlung zu entsenden.

Wittenberg:
Ich war bei der entscheidenden Kreisdelegiertenversammlung in der Bertolt-Brecht-Oberschule ausnahmsweise anwesend, als stellvertretender Delegierter. Die große Mehrheit der Kreisdelegierten ließ sich auf die neunmalklugen Spielchen des Kreisvorstandes ein und unterstützte die AfD-Leute.

Monica:
Das darf man niemandem erzählen, und es glaubt einem sowieso keiner.

Aus der Gruppe der Alkoholiker löst sich Rollstuhlfahrer Hagen und fährt zu Wittenberg & Co. die kurze Strecke hinüber.

Hagen:
Wittenberg, möchtest du dich mit einem kleinen Einsatz an unserem Wettspiel beteiligen? Der vorletzte Auftritt von Hertha in dieser Saison muss unbedingt entsprechend gewürdigt werden.

Wittenberg:
Mein Urvertrauen in Hertha BSC war nie besonders ausgeprägt, Hagen, und ich fürchte, sie verlieren sogar noch zu Hause gegen die Kellerkinder.

Hagen:
Dann wettest du eben auf Niederlage. Zahlreiche angebliche Hertha-Fans tun das in realistischer Einschätzung der Möglichkeiten „ihrer“ Mannschaft.

Wittenberg:
Das wäre aber ein ausgesprochen unehrenhaftes Verhalten von mir.

Hagen:
Na und? Wenn’s ums Geld geht?

Richard:
Schlimmer als Herthas Niederlagen sind für mich die anschließenden Kommentare des Trainers. Aber er hat Glück. Sein Unernst und sein analytisches Unvermögen werden ihm als „Humor“ abgenommen. — Zum Schluss haben wir wahrscheinlich wieder einen banalen Platz im Mittelfeld zu erwarten.

Monica:
Eine Freundin von mir hatte vor einiger Zeit einen befristeten Job im „Haus des deutschen Sports“ auf dem Olympiagelände. Dabei konnte sie beobachten, wie die jungen Hertha-Cracks mit ihren teuren Autos umgehen. Sie regte sich richtig darüber auf. „Wenn ihr Vater,“ so sagte sie ungefähr, „sich jemals einen Wagen dieser Kategorie hätte leisten können, das wäre für ihn vermutlich der Höhepunkt seines Lebens gewesen, und er hätte das Teil gehegt und gepflegt wie seinen Augapfel.“

Johannes:
Genau, sage mir, wie du mit deinem Auto umgehst, und ich sage dir, wer du bist. — Das ist eine hundertprozentige Lebensregel.

Hagen:
Gibt es irgendein Thema auf der Welt, das ihr Ganoven nicht sofort ins Allgemeingültige und Ewige zu verkehren wisst?

Wittenberg:
Bayern München — dazu fällt uns nichts mehr ein.

Monica:
Hoffentlich schafft Werder Bremen den Klassenerhalt. — Den grünen Jungs gönne ich es von Herzen.

Hagen rollt zurück zu seiner Clique.

Sabine:
Und? Haben sie ein paar Euronen herausgetan?

Hagen:
Fehlanzeige.

Caspar:
Ich habe meine Eingangstür jetzt endlich verstärken können. Drei Stahlriegel. Nicht einmal die GSG 9 kommt ohne Schwierigkeiten in meine Behausung.

Sabine:
Das glaubst aber auch nur du! In meiner Kampfsportzeit hätte ich dir dein Gerümpel notfalls noch selber eingetreten.

Marianne:
Menschen, die sich einmal entschlossen haben, ein
Unbestimmtes Stück des Lebensweges gemeinsam zu gehen,
Liebende, wie sie gemeinhin genannt werden, machen,
Es lässt sich leider nicht vermeiden, unterwegs Fehler.

Sabine:
Ich dachte, mit dem Thema „Männer“ sind wir durch, und zwar endgültig.

Marianne:
Sie drücken sich falsch oder feindselig aus,
Geben, womöglich mitten in der Nacht,
Unbedachte Äußerungen von sich,
Trinken viel zuviel Alkohol,
Bieten Anlass zur Eifersucht,
Wollen gewisse Gewohnheiten,
Die den Partner zur Weißglut treiben,
Partout nicht ablegen.

Sabine:
Du scheinst dir mächtig Gedanken gemacht zu haben, Marianderl. Aber glaube mir: Das ist alles für die Katz! Die Kerle sind es nicht wert, dass wir unsere kostbare Lebenszeit an sie verschwenden.

Marianne:
Fragen der Hygiene sind keineswegs zu unterschätzen,
Auch die notwendige Verständigung über gemeinsam
Als angenehm empfundene Sexualpraktiken
Gelingt nicht immer reibungslos.

Sabine:
Im Prinzip läuft alles einzig und allein darauf hinaus, ob und wie lange sie unsere Titten mögen. Früher oder später erkennen sie ihren Irrtum und suchen sich eine neue Spielkameradin.

Marianne:
Die Möglichkeit einer Trennung
Steht permanent einerseits
Als Risiko, als Bedrohung, als Gefahr,
Andererseits aber auch als Chance
Zu Neuanfang und Befreiung
Im logischen und emotionalen Raum
Des Beziehungsalltags.

Sabine:
Um sich trennen zu können, muss man erst einmal zusammenfinden.

Marianne:
Auf diese Weise lassen sich derartige Entwicklungen
Zur Psycho-Physiologie des Liebeslebens wenigstens
Annäherungsweise und halbwegs verständlich
Beschreiben, aber das Gesagte bleibt unbefriedigend,
Denn es bietet offenkundig keinen allgemein verbindlichen
Und gangbaren Ausweg aus der Misere.

Sabine:
Die meisten Paare, die ich kenne, bleiben nur deshalb zusammen, weil sie zu feige sind, einen Schlussstrich zu ziehen.

Marianne:
Auffällig ist indes eine stets und ständig wiederkehrende
Radikalität des Anspruchsdenkens, die ansonsten
Überhaupt nicht radikale Persönlichkeiten ausgerechnet
Gegenüber ihrem Lebensgefährten glauben entfalten zu müssen.
Die althergebrachte Forderung nach dem „idealen Gatten“
Oder dem „reifen Charakter“, dem „anständigen Menschen“
Wird natürlich längst nicht mehr in unverblümter Art und Weise
                                                                                                            erhoben.
Die Methoden sind auch in Liebesdingen merklich subtiler geworden.

Sabine:
Subtilität und Finesse müssen mir bei meinen Männern komplett entgangen sein.

Marianne:
Es könnte sich deshalb als nützlich erweisen, über offene
Und mehr noch über versteckte Erscheinungsformen des
                                                                        Irrationalismus
In der Ästhetik des Liebeslebens nachzudenken. Eine einseitig,
Um nicht zu sagen: undialektisch aufgefasste Sexualität bietet sich
Als Einfallstor für Hirngespinste und Dämonen aller Art geradezu an.

Sabine:
Lecken, blasen, ficken — das und nur das verstehen Männer unter einer befriedigenden Sexualität. Als Schulungsmaterial dienen ihnen Pornofilme. Sie sind narzisstische, polymorph perverse, aufgeklärte und manipulative Phallokraten.

Johannes (ruft hinüber zu Sabine):
Komm her, mein Schatz, ich möchte dich übers Knie legen!

Sabine:
Du dürres Klappergestell, wage es nur, mich anzurühren!

Ein Junge kommt mit dem Fahrrad angefahren. Er hält neben Hagen an und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der wirkt plötzlich wie elektrisiert und wendet seinen Rollstuhl (nach links) in Richtung Carl-Schurz-Straße.

Hagen (zu seinen Leuten, die sich um ihn gruppiert haben):
Abflug!

Johannes (zu Sabine):
Sabine, warte! Du hast versprochen, mir Zigaretten zu drehen.

Sabine:
Hast du Tabak und Blättchen gekauft?

Johannes rennt Sabine und der Clique um Rollstuhlfahrer Hagen hinterher. Wittenberg und die Seinen schauen ihnen allen verwundert nach.

Monica:
So etwas nennt man wohl nicht bloß in Künstlerkreisen einen „unglaublich starken Abgang“.

Sebastian:
Vielleicht sollten wir uns auch lieber verkrümeln?

Wittenberg:
Das kommt überhaupt nicht in Frage!

Richard:
Gut überlegen, dann erst die große Schnauze, Wittenberg.

Wittenberg:
Wir haben nichts verbrochen, Richard, und folglich ein Recht, uns hier aufzuhalten.

Richard:
Was glaubst du, warum sind Hagen und seine freien Affen so schnell verschwunden?

Wittenberg:
Vielleicht weil sie Hosenscheißer sind?

Monica:
Sie sind einfach abgehauen, ich fasse es nicht, und ohne uns ein Wort zu sagen.

Plötzlich ertönt ein schrilles, ohrenbetäubendes Pfeifen. Aus Richtung Havelstraße (von rechts her) stürmt eine Gruppe vermummter, schwarz gekleideter Gestalten auf die Bühne. Es handelt sich um mindestens ein halbes Dutzend Mann. Jeder hat einen schweren Baseballschläger als Waffe dabei. Der Trupp nimmt geordnet nebeneinander Aufstellung. Die Baseballschläger werden wie ein Gewehr geschultert. Monica hält Zoltan, Wittenberg hält Anastasia fest.

Der Anführer der Vermummten (schreit):
Freiheit! Heimat! Vaterland!

Zwei Vermummte bleiben stehen und schlagen ihre Baseballschläger immer wieder im Rhythmus gegeneinander: Eins – zwei – eins, zwei, drei – eins, zwei, drei, vier – Let’s go! Die anderen Vermummten heben ihre Baseballschläger hoch und rücken langsam gegen Monica und Wittenberg, gegen die Hunde, gegen Richard und Sebastian vor. Plötzlich setzt der Schlagrhythmus aus.

Die Vermummten (schreien im Chor):
Freiheit!

Das rhythmische Gegeneinanderschlagen der Holzknüttel setzt wieder ein und hört nach relativ kurzer Zeit abermals auf.

Die Vermummten (schreien im Chor):
Heimat!

Die beiden Taktgeber beginnen noch einmal. Wieder kehrt Stille ein.

Die Vermummten (schreien im Chor):
Vaterland!

Endlich gibt der Anführer der Vermummten mit seiner furchtbaren Trillerpfeife das Zeichen zum Angriff.

Anführer der Vermummten (schreit):
Draufschlagen, Männer! Keine Gnade!

Die Wolfshunde bellen. Während der Tumult auf der Bühne vollends erschreckende Formen annimmt, schließt sich der Vorhang.

12. September 2016