„Freie Affen“ Teil 3

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Dritte Szene: Moritzstraße

Wieder in der Moritzstraße, wie in der Ersten Szene. Monica, Anastasia und Zoltan sitzen auf ihrer Decke. Wittenberg fehlt vorläufig noch. — Juliane kommt aus ihrem Second Hand Shop. Sie stellt den Hunden eine große Plastikschüssel mit Wasser hin und setzt sich dann zu Monica.

Juliane:

Wo ist Wittenberg denn hin?

Monica:

Hin ist hin.

Juliane:

Wie? Hin?

Monica:

Manchmal ist er auch hin und weg.

Juliane:

Du sprichst in Rätseln, Monica. — Geht es dir nicht gut?

Monica:

Es geht mir wie immer den Umständen entsprechend.

Juliane:

Brauchst du etwas zu essen?

Monica:

Danke, nein.

Juliane:

Stimmt etwas mit den Hunden nicht? Machst du dir Sorgen?

Monica:

Anastasia und Zoltan sind wohlauf.

Juliane:

Hast du schon gehört? Das Altstadt-Management will einen Ordnungsdienst organisieren. Sie haben eine knallharte Frau aus London engagiert, die dort einen business improvement district geleitet hat. Sie war in einem Stadtteil, dessen Namen ich leider vergessen habe, eine Art nichtstaatliche oder zivilgesellschaftliche Bürgermeisterin. Sie durfte aber sogar den Polizeibeamten Anweisungen geben. Es war ihr gelungen, die Überwachung hauptsächlich der Geschäftsstraßen dermaßen zu perfektionieren, dass Ladendiebe schon von den Wächtern verfolgt worden sind, bevor sie — also die Ladendiebe meine ich — ihren kriminellen Impuls überhaupt konkretisieren und auf einen speziellen Tatort richten konnten.

Monica:

Ich bin beeindruckt, Juliane, wenn auch nicht ganz so begeistert, wie du es zu sein scheinst.

Juliane:

Bist du schon einmal beklaut worden?

Monica:

Doch, aber das war in einer längst vergangenen und beinahe verlorenen Zeit.

Juliane:

Ich jedenfalls lasse mich nicht gerne beklauen. — Das ist doch normal, oder?

Monica:

Vollkommen normal, mein geschäftstüchtiges Mädchen.

Juliane:

Ich glaube, du nimmst mich nicht ernst.

Monica:

Im Gegenteil, ich nehme dich heute so ernst wie gestern und morgen.

Juliane:

Das kann durchaus der Fall sein, bedeutet aber noch lange nicht, dass das Ernstnehmen ein ernstzunehmendes Niveau erreicht hat oder erreichen wird.

Monica:

Den Satz will ich mir für Wittenberg aufspeichern.

Juliane:

Wohin ist Wittenberg denn gegangen?

Monica:

Er wollte nach Charlottenburg.

Juliane:

Nach Charlottenburg? Was hat ausgerechnet Wittenberg in Charlottenburg verloren?

Monica:

Sein Freund Mario hat ihm einen Floh ins Ohr gesetzt.

Juliane:

Was genau für einen Floh? — Wusstest du übrigens, dass es 800 Zeckenarten gibt?

Monica:

Keine Ahnung.

Juliane:

Über Charlottenburg oder über Zecken?

Monica:

Was ist der Unterschied?

Juliane:

Meines Erachtens ist es nicht hinreichend gewährleistet, dass dein Denken jederzeit politisch korrekt abläuft, Monica.

Monica:

Erzähle weiter von der Frau aus London, bitte.

Juliane:

Sie ist gigantisch!

Monica:

So?

Juliane:

Groß, blond mit einem Stich ins Rötliche, sommersprossig, chic angezogen. Vater Engländer, Mutter Deutsche. Sie ist zweisprachig aufgewachsen.

Monica:

Und weiter?

Juliane:

Sie schwört auf Sicherheitsangestellte, die über ein beinahe photographisches Gedächtnis verfügen. Das gibt es! Solche Leute können sich besser als alle anderen Gesichter merken. Und wenn nun kriminelle Subjekte die Grenzen des Stadtquartiers überschreiten, werden sie von den Wächtern, die quasi als personalisierte Software zur physiognomischen Erkenntnis und zum automatisierten Datenabgleich aufgefasst werden dürfen, sofort registriert und unauffällig verfolgt. Es gelingt ihnen fast immer, die Diebe auf frischer Tat zu ertappen und den Strafverfolgungsbehörden zu übergeben.

Monica:

Das steht dann natürlich in der Zeitung …

Juliane:

Genau, das steht dann natürlich in der Zeitung und wirkt abschreckend. Die Kriminellen meiden in Zukunft unsere Altstadt und gehen woanders klauen. Zum Beispiel in der Neustadt oder in der Wilhelmstadt oder im Umland, wo sie wollen, bloß nicht mehr hier.

Monica:

Die Wächter greifen also erst nach der verächtlichen Handlung der Auswärtigen ein? Sie verhindern einen Diebstahl nicht, indem sie zum Beispiel den Verdächtigen vor der bereits antizipierten Tat einen Platzverweis erteilen? — Du weißt, ich bin inzwischen zur Expertin geworden, was Platzverweise anbelangt.

Juliane:

Das gehört zum Konzept von Mrs. Sanders unbedingt dazu! Sie will nicht, dass die gemeinen Verbrecher ungestraft davonkommen. Würden sie nämlich nur verwarnt und der Altstadt verwiesen, könnten sie weitere Versuche zum Unruhestiften unternehmen. Werden sie hingegen caught in the act, wie die Engländer sagen, dann ist es möglich, sie ihrer gerechten Bestrafung zuzuführen.

Monica:

Es klingt ebenso einfach wie überzeugend, mein Herz.

Juliane:

Nicht wahr? — Du musst Mrs. Sanders unbedingt einmal kennenlernen!

Monica:

Ich fürchte, das wird sich kaum vermeiden lassen.

Juliane:

Was willst du damit sagen?

Monica:

Ich meine, sie wird uns wohl in „ihrer“ Altstadt nicht lange dulden wollen.

Juliane:

Jetzt übertreibst du aber, Monica. — Schließlich habt ihr beiden, du und Wittenberg, euch nichts zuschulden kommen lassen.

Monica:

Wir stehlen nicht, aber wir kaufen auch nicht.

Juliane:

Aber es ist das souveräne Recht eines jeden Kunden, auch einmal nichts zu kaufen.

Monica:

Du bemerkst die Einschränkung, die du vornimmst?

Juliane:

Welche Einschränkung?

Monica:

Du willst sagen, es sei das souveräne Recht einer jeden Kundin, eines jeden Kunden, ausnahmsweise auch einmal nichts zu kaufen. Der Einkauf ist die Regel; die Konsumverweigerung wird allenfalls als die Ausnahme toleriert.

Juliane:

Grundgütiger Gott!

Monica:

Den alten Herrn lassen wir besser aus dem Spiel.

Juliane:

Aber wenn Mrs. Sanders nicht engagiert wird, werden wir alle früher oder später unsere Arbeitsplätze verlieren. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Monica:

Ohne Mrs. Sanders und ihren Wächtertrupp geht es nicht weiter? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, Julianchen?

Juliane:

Bitte, nenne mich nicht so!

Monica:

Entschuldige.

Juliane:

Ich muss wieder in den Laden und mich um das Geschäft kümmern. — Den Napf bringst du mir nachher, ja?

Juliane verschwindet wieder in ihrem Second Hand Shop. Monica verteilt Hundekuchen an Anastasia und Zoltan. Endlich erscheint Wittenberg. Er schleppt zwei Leinenbeutel mit Büchern drin.

Monica:

Himmel und Hölle, hast du schon wieder Bücher gekauft?

Wittenberg:

Es handelte sich um Angebote, die ich unmöglich ablehnen konnte.

Monica:

Man müsste dir Hausverbot erteilen bei Trödlern und in Antiquariaten. So wie man Spielern Hausverbot in Casinos erteilt, auf deren eigenen Wunsch hin.

Wittenberg:

Und nicht zu vergessen Sozialmärkte und andere soziale Institutionen! Dort bekommt man Bücher förmlich nachgeschmissen.

Monica:

Zeig doch mal her, was du mitgebracht hast.

Wittenberg packt grinsend einen riesigen Atlas aus. Das Buch ist knapp ½ Meter hoch, zirka 31 Zentimeter breit und recht dick. Er präsentiert seine Beute mit unverkennbarem Stolz, und Monica muss mit beiden Händen feste zupacken, um sie nicht fallenzulassen.

Monica:

Puh!

Wittenberg:

Gedruckt Ende der neunziger Jahre.

Monica:

Also nicht mehr mit Deutschland drin in den Grenzen von 1937?

Wittenberg:

Wie schlecht du immer wieder von mir denkst; ich frage mich, womit ich das verdient habe.

Monica:

Das fragst du dich bestimmt nicht, Wittenberg, weil du nämlich ein verdammt sturer Pascha bist. — Was ist in dem anderen Beutel?

Wittenberg:

Goethes „Italienische Reise“, etwas über Brecht, dann „Das Finanzkapital“ von Hilferding, außerdem ein schönes Buch aus DDR-Zeiten über Konrad Wolf und schließlich Renzo Vespignani: „Faschismus“.

Monica:

Ich gehe jede Wette ein, dass du wenigstens zwei davon schon zu Hause hast.

Wittenberg:

Wetten, die er auf jeden Fall gewinnen würde, soll ein Gentleman gar nicht erst eingehen.

Monica:

Wieso das?

Wittenberg:

Weil das „unfair“ ist! Zu einer jeden anständigen Wette gehört das Moment der Ungewissheit — und zwar auf beiden Seiten.

Monica:

Wirklich gut, dass du mir das sagst, Wittenberg; es wird mein Leben verändern.

Wittenberg:

Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?

Monica:

Juliane und ich, wir haben uns unterhalten.

Wittenberg:

Worüber?

Monica:

Die Frage ist nicht eben leicht zu beantworten, Wittenberg.

Wittenberg:

Aber du könntest es wenigstens versuchen, Monicaleben.

Monica:

Es ging um Mrs. Sanders.

Wittenberg:

Von der Dame habe ich bereits läuten hören.

Monica:

Juliane ist schwer beeindruckt von Mrs. Sanders.

Wittenberg:

Warum wundert mich das nicht?

Monica:

Mrs. Sanders wird uns vertreiben wollen, Wittenberg, unter allen Umständen.

Wittenberg:

Hast du Angst?

Monica:

Sagen wir so: ein gewisses Unbehagen lässt sich nicht länger leugnen.

28.07.2016